Bundespatentgericht:
Beschluss vom 7. April 2011
Aktenzeichen: 8 W (pat) 29/07

(BPatG: Beschluss v. 07.04.2011, Az.: 8 W (pat) 29/07)




Zusammenfassung der Gerichtsentscheidung

Die Beschwerde gegen das Patent wird abgelehnt. In dem vorliegenden Fall geht es um ein Patent, das eine stufenlos einstellbare Kalibrierhülse für extrudierte Kunststoffrohre betrifft. Die Beschwerdeführerin hatte Einspruch gegen das Patent eingelegt und argumentiert, dass der Gegenstand des Patentanspruchs nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht und somit nicht patentfähig ist. Die Beschwerdegegnerin hingegen verteidigte das Patent und behauptete, dass der Gegenstand des Patentanspruchs sowohl neu als auch erfinderisch ist.

Das Bundespatentgericht hat entschieden, dass das Patent gültig ist. Es wurde festgestellt, dass der Gegenstand des Patentanspruchs sowohl neu als auch erfinderisch ist. Der Stand der Technik, der von den Dokumenten E8 und E20 repräsentiert wird, gibt keinen Hinweis darauf, wie die stufenlos einstellbare Kalibrierhülse gemäß dem Patentanspruch gestaltet wird. Die Beschwerdeführerin verwies auf die E8, um die mangelnde Neuheit des Gegenstands zu belegen, aber das Gericht stellte fest, dass die E8 nicht die gleichen Merkmale wie der Patentanspruch aufweist. Die E4 wurde ebenfalls als Stand der Technik betrachtet, aber auch hier hat das Gericht festgestellt, dass die Kalibrierhülse in der E4 nicht die gleichen Merkmale wie der Patentanspruch aufweist.

Das Gericht stellte fest, dass der Gegenstand des Patentanspruchs auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht und somit patentfähig ist. Es wurden auch die weiteren Patentansprüche, die sich auf den Patentanspruch 1 beziehen, für gültig erklärt.




Die Gerichtsentscheidung im Volltext:

BPatG: Beschluss v. 07.04.2011, Az: 8 W (pat) 29/07


Tenor

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Gründe

I.

Das Patent 10 2005 002 820 mit der Bezeichnung

"Stufenlos einstellbare Kalibrierhülse für extrudierte Kunststoffrohre"

ist am 20. Januar 2005 angemeldet worden. Mit Beschluss vom 7. Dezember 2005 ist das Patent erteilt und die Erteilung am 11. Mai 2006 veröffentlicht worden.

Gegen das Patent hat die Beschwerdeführerin am 10. August 2006 Einspruch erhoben, mit dem der vollständige Widerruf beantragt wurde.

Zur Stützung des Einspruchsvorbringens hat sie dabei insbesondere auf folgende Dokumente verwiesen:

E4: EP1115550B1 E8: DE 10 2004 029 498 B3 E16: WO 2004/091891 A1 E20: Prospekt "iNOEX -The Future of Extrusion" vom Oktober 2004.

Die Beschwerdeführerin und Einsprechende hat in ihrer Einspruchsbegründung mit Eingang vom 19. Dezember 2006 ausgeführt, dass der Gegenstand des Patentanspruchs 1 gegenüber dem Stand der Technik nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe und somit nicht patentfähig sei (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 PatG).

Die Beschwerdegegnerin und Patentinhaberin hat diesem Vorbringen widersprochen und sieht die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands des Patentanspruchs 1 des Streitpatents als gegeben an.

Die Patentabteilung 1.16 des Deutschen Patentund Markenamts hat daraufhin das Patent mit Beschluss vom 19. April 2007 in vollem Umfang aufrechterhalten. Die Patentabteilung hat zur Begründung ausgeführt, dass ausgehend vom nächst kommenden Stand der Technik, dem Prospekt E20, der Gegenstand des Streitpatents auch in Verbindung mit den übrigen Druckschriften nicht nahegelegt sei.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Einsprechenden. Sie hat in der mündlichen Verhandlung dazu ausgeführt, dass der Gegenstand des Patentanspruchs 1 gegenüber dem Stand der Technik der E8 nicht neu sei und zudem hinsichtlich einer Zusammenschau der Druckschriften E20 und E4 nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe. Zudem hat sie in der mündlichen Verhandlung noch eine Farbkopie des Prospekts E20 und ein weiteres Dokument zur Definition des Begriffs Labyrinthdichtung überreicht:

E24: Auszug aus Wikipedia: "Labyrinthdichtung".

Die Beschwerdeführerin und Einsprechende beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und das Patent zu widerrufen.

Die Beschwerdegegnerin und Patentinhaberin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Patentinhaberin widerspricht dem Vorbringen der Einsprechenden und führt aus, dass der Gegenstand des Patentanspruchs 1 neben der Neuheit auch die erfinderische Tätigkeit aufweise. Keine der im Stand der Technik genannten Druckschriften lege den Gegenstand des Streitpatents für einen Fachmann nahe.

Der erteilte Patentanspruch 1 lautet:

"Stufenlos einstellbare Kalibrierhülse für extrudierte Kunststoffrohre mit einem Einlaufkopf (12) und zwei Bänderlagen (16, 17), die sich nach Art eines Scherengitters kreuzen und an den Kreuzungspunkten gelenkig miteinander verbunden sind, wobei der Einlaufkopf (12) und die Bänderlagen (16, 17) auf den Rohrdurchmesser einstellbar sind und der Einlaufkopf (12) in einer Radialebene (20) angeordnete, auf den Umfang des zu kalibrierenden Kunststoffrohres (6) verteilte, radial verstellbare und sich überlappende Segmente (19) aufweist, die in ihren Überlappungsbereichen (23) Schlitze (21) aufweisen und verzahnend ineinandergreifen, und wobei die Stirnseiten (19.1) der Segmente (19) zur Anlage an das zu kalibrierende Kunststoffrohr (6) ausgebildet und die Bänderlagen (16, 17) bündig mit den Stirnseiten (19.1) gelenkig an den Segmenten (19) befestigt sind."

Hinsichtlich der Patentansprüche 2 bis 8 sowie weiterer Einzelheiten des Vorbringens wird auf die Patentschrift und die Akten verwiesen.

II.

1.

Die Beschwerde der Einsprechenden ist fristund formgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig. Sie ist jedoch in der Sache nicht begründet, denn der Patentgegenstand, wie er erteilt und von der Patentabteilung im Einspruchsverfahren aufrechterhalten worden ist, stellt eine patentfähige Erfindung im Sinne des PatG§ 1bis §5 dar.

2.

Die Erfindung betrifft eine stufenlos einstellbare Kalibrierhülse für extrudierte Kunststoffrohre, wobei die Kalibrierhülse aus einem Einlaufkopf mit radial verstellbaren Segmenten besteht, an den sich ein Hülsenkörper anschließt, der aus zwei Lagen von flexiblen Bändern zusammengesetzt ist, die sich nach Art eines Scherengitters kreuzen. Beide Teile der Kalibrierhülse liegen durch Unterstützung mittels Unterdruck an dem noch weichen, extrudierten Kunststoffrohr an und überführen dieses einhergehend mit der parallel stattfindenden Kühlung in eine feste Form der gewünschten Dimension. Dabei kann der Durchmesser der Kalibrierhülse innerhalb eines bestimmten Bereiches im laufenden Betrieb auf die unterschiedlichen Außendurchmesser der herzustellenden Kunststoffrohre angepasst werden.

Ausgehend von dem bekannten Stand der Technik ist es die Aufgabe der vorliegenden Erfindung -gemäß Absatz [0005] der Streitpatentschrift -eine Kalibrierhülse zur Verfügung zu stellen, die im Vergleich mit den bekannten Kalibrierhülsen einfach aufgebaut ist, aber dennoch am Einlaufkopf eine effektive Abdichtung des Vakuumtanks gegenüber der Umgebung gewährleistet, Stauchungen des einlaufenden, extrudierten Kunststoffrohres vermeidet und bei jedem eingestellten Durchmesser eine absolut kreisrunde Form besitzt.

Als Lösung schlägt deshalb die Streitpatentschrift eine Vorrichtung mit den im Patentanspruch 1 angegebenen Merkmalen vor, die sich folgendermaßen gliedern lässt:

1. Stufenlos einstellbare Kalibrierhülse für extrudierte Kunststoffrohre, 1.1 mit einem Einlaufkopf und 1.2 zwei Bänderlagen, 1.2.1 die sich nach Art eines Scherengitters kreuzen und an den Kreuzungspunkten gelenkig miteinander verbunden sind;

1.3 der Einlaufkopf und die Bänderlagen sind auf den Rohrdurchmesser einstellbar;

1.4 der Einlaufkopf weist Segmente auf, 1.4.1 die Segmente sind in einer Radialebene angeordnet, 1.4.2 auf den Umfang des zu kalibrierenden Kunststoffrohres verteilt, 1.4.3 radial verstellbar, 1.4.4 überlappen sich, 1.4.5 weisen in ihren Überlappungsbereichen Schlitze auf und 1.4.6 greifen verzahnend ineinander;

1.5 die Stirnseiten der Segmente sind zur Anlage an das zu kalibrierende Kunststoffrohr ausgebildet;

1.6 die Bänderlagen sind gelenkig an den Segmenten befestigt und 1.7 sind bündig mit den Stirnseiten der Segmente.

Um eine Kalibrierhülse für extrudierte Kunststoffrohre mit unterschiedlichen Durchmessern zu erhalten, sind gemäß der vorliegenden Lösung die beiden wesentlichen Elemente der Kalibrierhülse, Einlaufkopf und Bänderlagen, jeweils radial stufenlos verstellbar ausgebildet und werden zur Anlage an das zu kalibrierende Kunststoffrohr gebracht (Merkmale 1.3 und 1.5). Die den Einlaufkopf bildenden radial verstellbaren Segmente werden hierzu in einer Radialebene angeordnet und sind über den Umfang verteilt. Die Segmente überlappen sich zudem und weisen in ihren Überlappungsbereichen Schlitze auf, die verzahnend ineinander greifen (Merkmalskomplex 1.4). Durch diesen Aufbau der Segmente soll nach der Beschreibung [0007] eine Art Labyrinthdichtung erzeugt werden, um die Abdichtung des Vakuumtanks gegenüber der Umgebung zu gewährleisten.

Mit "Überlappen" im Sinne des Patentanspruchs 1 des Streitpatents ist nicht das hintereinander versetzte Positionieren der Segmente anzusehen ("radiales Überlappen"). Vielmehr bezeichnet der Begriff ein axiales Überschneiden der Segmente ("axiales Überlappen"), so dass die Segmente (nahezu vollständig) in einer Ebene angeordnet sind. Dies folgt aus den Merkmalen 1.4.1, 1.4.2, 1.4.4, 1.4.5 und 1.4.6 und wird durch Schlitze ermöglicht, die das verzahnende "Ineinandergreifen" der Segmente erlauben.

Da die Bänderlagen an den Segmenten befestigt sind und mit den an der Rohroberfläche anliegenden Stirnseiten der Segmente radial (und weitgehend auch axial) bündig sind (Merkmale 1.6 und 1.7), ergibt sich ein kontinuierlicher (Flächen-)Übergang von Einlaufkopf zu den Bänderlagen.

3. Der zweifellos gewerblich anwendbare Gegenstand des Patentanspruch 1 ist neu. Die Neuheit des Streitpatentgegenstands wird jedoch seitens der Einsprechenden hinsichtlich dem gegenüber dem Streitpatent nachveröffentlichten Dokument DE 10 2004 029 498 B3 (E8) mit älterem Zeitrang (gemäß § 3 Abs. 2 PatG) bestritten.

Die E8 beschreibt und zeigt eine stufenlos einstellbare Kalibrierhülse für extrudierte Kunststoffrohre mit einem Einlaufkopf und zwei Bänderlagen. Diese Bänderlagen kreuzen sich nach Art eines Scherengitters und sind an den Kreuzungspunkten gelenkig miteinander verbunden. Sowohl Einlaufkopf als auch Bänderlagen sind auf den Rohrdurchmesser einstellbar (Merkmale 1 bis 1.3). Der Einlaufkopf weist auch über den Umfang eines zu kalibrierenden Kunststoffrohres verteilte Segmente auf, die radial verstellbar sind. Die Stirnseiten der Segmente sind dabei zur Anlage an das zu kalibrierende Kunststoffrohr ausgebildet, wobei die Bänderlagen bündig mit den Stirnseiten gelenkig an den Segmenten befestigt sind, was insbesondere aus der Figur 5 der E8 zu entnehmen ist. Damit sind auch die Merkmale 1.4, 1.4.2 und 1.4.3 sowie 1.5 bis 1.7 bekannt.

Die Segmente gemäß der E8 liegen jedoch nicht in einer Ebene, sind nicht in ihren Überlappungsbereichen mit Schlitzen versehen und greifen auch nicht verzahnend ineinander, wie es die Merkmale 1.4.1, 1.4.5 und 1.4.6 des Gegenstands nach Anspruch 1 des Streitpatents beschreiben. Zudem ist ein axiales, ineinandergreifendes "Überlappen" der Segmente nicht bekannt; in der E8 wird der Begriff des "Überlappens" anders verwandt als im Streitpatent (s. hierzu Kap. 2). Im Patentanspruch 1 der E8 ist von über den Umfang verteilten, radial verstellbaren Segmenten (19, 20) die Rede, "die sich von Radialebene (21) zu Radialebene (22) überlappen und in den Überlappungsbereichen (23) aneinander liegen". Unter Hinzuziehung der Figur 1, in der die Ebenen (21) und (22) explizit hintereinander liegend eingezeichnet sind, sind damit ausdrücklich zwei (getrennte) Ebenen von axial nacheinander angeordneten Segmentreihen beschrieben. Mit "Überlappen" im Sinne der E8 ist demzufolge die "radiale Überlappung" der Segmente der zweiten Reihe gegenüber denen der ersten Reihe gemeint. Die Auffassung der Einsprechenden, dass die gemeinsame Mittelebene (Kontaktebene) der beiden hintereinander liegenden Segmentreihen in der E8 als gemeinsame Ebene angesehen werden könnte, trifft deswegen nicht zu. Erst durch die in die Segmente eingebrachten Schlitze und dem dadurch möglichen Ineinandersetzen der Segmente wird gemäß Streitpatent die "axiale Überlappung" der (beiden) Segmentreihen und somit deren Anordnung in einer Ebene erreicht. Damit ist auch das Merkmal 1.4.4 im Sinne des Streitpatents nicht bekannt.

Die in der E8 aufgeführten Nuten (34 und 35) können entgegen der Auffassung der Einsprechenden nicht als Schlitze aufgefasst werden, da diese Nuten keine Schlitze im Sinne des Streitpatents sind. Die Nut (34) ist stirnseitig dem zu kalibrierenden Rohr zugewandt und dient der Zuführung von Druckwasser an die Rohroberfläche (Patentanspruch 3 und Abs. [0023]), während die Nuten (35) die Druckwasserzuführung "für eine Abdichtung zwischen den Segmenten (19) der Radialebene (21) und den Segmenten (20) der Radialebene (22) gegen Luftströmung" sicherstellen. Ein Ineinandergreifen der Segmente sowie eine entsprechende "Verzahnung" der Segmente (in "axialer Richtung") gemäß Merkmal 1.4.6 ist mit diesen Nuten nicht möglich.

Damit ist der Gegenstand des Patentanspruchs 1 nach Streitpatent neu gegenüber der E8.

Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 ist auch neu gegenüber den weiteren im Verfahren befindlichen Druckschriften, wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen zur erfinderischen Tätigkeit ergibt.

4. Der Gegenstand nach Patentanspruch 1 beruht auch auf einer erfinderischen Tätigkeit, denn für die im Patentanspruch 1 aufgeführten Merkmale vermittelt der aufgezeigte Stand der Technik dem hier angesprochenen Fachmann keine Anregungen. Als Fachmann ist ein Ingenieur der Fachrichtung Maschinenbau oder Kunststofftechnik mit einem Fachhochschul-Abschluss anzusehen, der eine mehrjährige Berufserfahrung auf dem Gebiet der Kunststoff-Verfahrenstechnik aufweist und über Erfahrungen im Bereich der Kalibriertechnik verfügt.

Der nächstkommende Stand der Technik ist -auch nach Auffassung der Einsprechenden -der Prospekt "iNOEX -The Future of Extrusion" vom Oktober 2004 (E20). Er offenbart eine stufenlos einstellbare Kalibrierhülse ("calibration sleeve ... continuous change of various dimensions...", S. 2, Abs. 1), die für die Extrusion von Kunststoffrohren ("PO pipes") im Anschluss an die Extrusion vorgesehen ist (Merkmal 1. der Merkmalsgliederung des Anspruchs 1 nach Streitpatent). Die Fotografie auf der Vorderseite des Prospekts weist einen Einlaufbereich auf, der als Einlaufkopf bezeichnet werden kann ("inlet", S. 2, Abs. 2), dem in Förderrichtung zumindest zwei sich diagonal überkreuzende Bänderlagen folgen ("calibration cage"; Merkmale 1.1 und 1.2). Die Bänderlagen kreuzen sich dabei nach Art eines Scherengitters und sind an den Kreuzungspunkten erkennbar gelenkig miteinander verbunden. Die Verbindung ist in Form von scheinbaren Schrauboder Nietverbindungen aus der Fotografie ersichtlich, die dabei aufgrund der flexiblen und genauen Anpassung ("precise adaption of the sleeve's two component parts, the inlet and the calibration parts", S. 2, Abs. 2) gelenkig ausgeführt sein müssen. Damit sind die Merkmale 1.2.1 und 1.3 bekannt.

Der Einlaufkopf weist nach Merkmal 1.4 auch Segmente auf, die auf den Umfang des zu kalibrierenden Kunststoffrohres verteilt angebracht und offensichtlich auch radial verstellbar ausgelegt sind (S. 2, Abs. 2; Merkmale 1.4.2 und 1.4.3). Damit kommen die Stirnseiten der Segmente (funktionsbedingt) an das zu kalibrierende Kunststoffrohr zum Anliegen (Merkmal 1.5). In der farbigen Fotografie der E20 mögen auch von den Bänderlagen axial in Richtung der Segmente abstehende Laschen oder Stege für den Fachmann erkennbar sein, die die zwei Bänderlagen (radial oder gegebenenfalls axial) bündig mit den Stirnseiten der Segmente erscheinen lassen (Merkmal 1.7). Auch mag der Fachmann in seinem fachmännischen Verständnis die Bänderlagen über diese Laschen oder Stege mit den Segmenten als befestigt und -aufgrund der radial flexiblen Anordnung sowohl der Segmente als auch der Bänderlagen und der sich daraufhin ergebenden Kinematik -diese Befestigung als gelenkig ausgeführt ansehen (Merkmal 1.6).

Gegenüber dem Gegenstand des Streitpatents unterscheiden sich die Segmente der Kalibriervorrichtung der E20 jedoch dahingehend, dass diese Segmente nicht entsprechend den weiteren Merkmalen dieser Merkmalsgruppe (1.4.1 und 1.4.4 bis 1.4.6) ausgebildet sind. Die Segmente bzw. die Segmentreihen liegen nicht in einer Ebene, da sie in zwei aufeinander folgenden Ebenen positioniert sind und können sich demzufolge auch nicht in dem streitpatentgemäßen Sinne "axial überlappen". Ferner sind keine Schlitze in den Überlappungsbereichen der Segmente vorhanden, mit denen die Segmente ineinander verzahnend eingreifen könnten. Auf den stirnseitigen Flächen der Segmente sind lediglich nutartige Vertiefungen zu erkennen, die zudem nicht in den Überlappungsbereichen der Segmente im Sinne des Streitpatents gemäß Merkmal 1.4.5 ausgebildet sind und somit auch keine derartigen Schlitze darstellen. Insofern ist im Hinblick auf die merkmalsspezifische Betrachtung gegenüber dem Patentanspruch 1 des Streitpatents das Dokument der E20 der Druckschrift E8 gleichzusetzen. Aus der E20 ergibt sich für den Fachmann darüber hinaus auch keine Anregung, die Segmente entsprechend den Merkmalen 1.4.1 und 1.4.4 bis 1.4.6 zu gestalten und anzuordnen.

Die Entgegenhaltung EP 1 115 550 B1 (E4) beschreibt gemäß Patentanspruch 1 eine Vorrichtung zur Herstellung von Kunststoffrohren, die eine Kalibrierstation (3) mit Kalibrierwerkzeugen (40) aufweist, wobei als Kalibrierwerkzeuge "eine Vielzahl von Lamellen (40) über den Umfang des zu kalibrierenden Rohres (10) aufeinander folgend im Abstand voneinander verteilt angeordnet sind" (ebenso Fig. 2 und 3). In Produktionsrichtung des Rohres gesehen sind dabei eine Vielzahl solcher Lamellenkränze (42, 43) vorgesehen, deren jeweilige Lamellen auf Lücke zu den Lamellen des vorhergehenden Lamellenkranzes angeordnet sind, die zur Anlage an die Außenwandung des Kunststoffrohres kommen. Mit Lamellenkranz ist offensichtlich eine ringförmige Lamelleneinheit in einer Ebene gemeint ("... eine Vielzahl von Lamellenkränzen 42 und 43 ...", Sp. 4, Z. 40 ff. i. V. m. Patentanspruch 1 und Fig. 3), deren Aneinanderreihung einen ringförmigen Körper und damit die Kalibrierhülse bilden (Figuren). Die (stufenlose) Verstellung kann dabei motorisch oder manuell erfolgen (Patentansprüche 2 bzw. 3).

Gemäß der Beschreibung (Abs. [0014] und Patentanspruch 4) können anstelle der Lamellen auch "Verstellsegmente" vorgesehen sein, die einen in Längsrichtung des Rohres gesehen rohrförmigen Körper schaffen, wobei die diesen Körper bildenden einzelnen Segmentstreifen sich verzahnend ineinander greifen ...". Dadurch seien auch bei Verstellungen auf einen größeren Durchmesser am Rohr immer noch Bereiche der Segmente vorhanden, die anliegen. Über die konstruktive Ausgestaltung und Lage dieser Segmentstreifen kann der Fachmann jedoch der E4 nichts Näheres entnehmen.

Damit weist die Kalibrierhülse der E4 bereits keinen Einlaufkopf sowie Bänderlagen entsprechend dem Gegenstand des Anspruchs 1 nach Streitpatent auf. Es können zwar im Einlaufbereich der Kalibrierhülse Segmente vorliegen, die auf den Umfang des zu kalibrierenden Kunststoffrohres verteilt sind und deren Stirnseiten zur Anlage an das zu kalibrierende Kunststoffrohr ausgebildet sind. Doch ist nicht beschrieben, dass die Lamellen sich im Sinne des Streitpatents "axial überlappen" und in ihren Überlappungsbereichen (selbst) Schlitze aufweisen. Damit ist aus der E4 nicht offenbart, dass eine Überlappung durch Schlitzung der einzelnen Segmente oder Verstellsegmente derart stattfindet, dass die (zwei) Segmentreihen in einer Ebene liegen. Folglich sind insgesamt die Merkmale 1.1 bis 1.3, 1.4.1, 1.4.4 bis 1.4.6 sowie 1.6 und 1.7 nicht aus der E4 bekannt.

Beide Rohr-Kalibrierhülsen -sowohl die gemäß der E20 wie auch die aus der E4 bekannte -betreffen zwar die Kalibrierung eines extrudierten Kunststoffrohres, stellen jedoch Vorrichtungen dar, die sich zum Teil wesentlich unterscheiden. So weist die Kalibriervorrichtung aus der E4 bereits keine Bänderlagen auf und beinhaltet damit ebenfalls nicht die Anbindung der Bänderlagen an die radial verstellbaren Segmente. Im durch eine äußere Umhüllung gekapselten Einlaufbereich der Kalibriervorrichtung der E4 liegt bereits Unterdruck an (Vakuumsaugglocke 2 direkt vor der Kalibrierstation 3, Figur 1 und dazugehörige Beschreibung), so dass es dort auch keine Abdichtproblematik des Einlaufbereichs der Kalibrierhülse gegenüber der Umgebung gibt. Insofern ist es bereits fraglich, ob der Fachmann, der ausgehend von der Kalibrierhülse nach E20 Verbesserungen im Hinblick auf eine effektive Abdichtung des Vakuumtanks gegenüber der Umgebung zum Ziel hat, die Druckschrift E4 überhaupt berücksichtigen würde, da dort dieses Problem gar nicht existiert und somit auch keine dementsprechende Lösung zu erwarten ist. Doch selbst wenn der Fachmann die E4 herangezogen hätte, so käme er nicht auf die streitpatente Lösung.

Vom Prinzip her offenbart die E4 eine Vielzahl von schmalen Lamellenkränzen, die sich homogen über die gesamte Länge der Kalibrierhülse erstrecken und diese letztlich bildet. Gemäß den weiter ausgeführten Variationen der E4 können diese Lamellen auch durch eine Vielzahl von Rollen gebildet werden (Figur 4 sowie die entsprechende Beschreibung). Als dritte Lösungsmöglichkeit werden die bereits genannten Verstellsegmente beschrieben, die anstelle der Lamellen vorgesehen sein können und ihrerseits den rohrförmigen Körper der Kalibrierhülse bilden. Damit erhält der Fachmann ausgehend von der Kalibrierhülse der E20 gerade nicht die Anregung, die radial verstellbaren Segmente durch Schlitze so ineinander zu setzen, dass sie in einer Ebene positioniert sind. Eine mögliche Lösung unter Hinzuziehung der E4 wäre vielmehr, mehrere (schmale) Segmentreihen hintereinander zu platzieren, um so den Abdichtungseffekt gegebenenfalls zu verbessern. Eine derartige Lösung in Richtung der E4 würde jedoch von der im Streitpatent gefundenen Lösung wegführen, im Vergleich (zur E4) relativ breite Segmente mit Schlitzen zu versehen (Fig. 2, 4, 6 und 7 der Streitpatentschrift), die dann verzahnend ineinander greifen und lediglich in einer Ebene angeordnet sind.

Ein weiterer Ansatz zur Lösung der Abdichtproblematik im Bereich des Einlaufkopfes der Kalibrierhülse unter Berücksichtigung der E4 wäre beispielsweise, die Strecke zwischen Düsenausgang und Eintritt in die Kalibriervorrichtung entsprechend der E4 zu kapseln, um den Bereich auch vor der Hülse bereits mit Unterdruck zu versehen. Damit würde das grundsätzliche Problem der Abdichtung vor dem Einlaufbereich der Kalibrierhülse gegenüber der Umgebung entfallen. Die in der E4 angesprochene Vakuumabdichtung (9) betrifft lediglich den Auslaufbereich des bereits festen Rohres nach Kalibrierung und Kühlung; sie ist zwar beiden Vorrichtung prinzipiell gemein, unterscheidet sich jedoch im Hinblick auf die Problematik der Abdichtung und der zu vermeidenden Stauchung im Einlaufbereich des noch heißen und weichen Rohres wesentlich. Für die Lösung gemäß Streitpatent, den Einlaufkopf mit den Segmenten auf eine Ebene zu reduzieren und durch das Vorsehen von Schlitzen sowie dem Ineinandergreifen der Segmente eine Art Labyrinthdichtung zu erzielen, erhält der Fachmann aus der E4 keinerlei Anregungen.

Die ferner genannte Druckschrift WO 2004/091891 A1 (E16) liegt bereits weiter ab vom Streitpatentgegenstand. Die dort offenbarte Kalibrierhülse weist lediglich radial verstellbare Bänderlagen auf und beschreibt keine (radial verstellbaren) Segmente. Somit liefert diese Druckschrift dem Fachmann keinen Beitrag, zur Lehre von Patentanspruch 1 nach Streitpatent zu gelangen.

Weitere im Prüfungsverfahren und zu Beginn des Einspruchsverfahrens genannten Dokumente wurden bereits nicht mehr im Beschwerdeverfahren aufgeführt, sie liegen ausnahmslos weiter ab, wie der Senat geprüft hat, und bringen hinsichtlich der Beurteilung der Patentfähigkeit keine neuen Gesichtspunkte.

Auch wenn der Fachmann die Nachteile einer unzureichenden Abdichtung in Verbindung mit Stauchungsproblemen im Einlaufbereich der Kalibrierhülse erkannte und deshalb Anlass hatte, nach Verbesserungen zu suchen, so gab der Stand der Technik ihm keine Veranlassung, die in der E20 offenbarte Kalibrierhülse in Richtung auf die Lehre von Patentanspruch 1 des Streitpatents abzuwandeln. Die beanspruchte Lehre war auch nicht durch einfache fachübliche Erwägungen auffindbar, sondern es waren darüber hinaus gehende Gedanken und Überlegungen notwendig, zu denen es einer erfinderischen Tätigkeit bedurfte. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 ist somit patentfähig und hat Bestand.

5.

Mit diesem haben auch die auf den Patentanspruch 1 rückbezogenen Patentansprüche 2 bis 8 Bestand, da ihre Merkmale über selbstverständliche technische Maßnahmen hinausgehen.

6.

Unter diesen Umständen konnte auf die Vernehmung des von der Beschwerdeführerin angebotenen Zeugen verzichtet werden, da die geltend gemachte Offenkundigkeit des Gegenstands der E8 vor dem Anmeldetag des Streitpatents bzw. die Übereinstimmung des Offenbarungsgehaltes der E20 mit dem der E8 als unterstellt in die vorstehenden Betrachtungen eingegangen sind.

Dr. Zehendner Dr. Huber Kätker Dr. Dorfschmidt Cl






BPatG:
Beschluss v. 07.04.2011
Az: 8 W (pat) 29/07


Link zum Urteil:
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