Bundesverfassungsgericht:
Beschluss vom 10. März 2009
Aktenzeichen: 1 BvR 2650/05

(BVerfG: Beschluss v. 10.03.2009, Az.: 1 BvR 2650/05)

Tenor

Das Urteil des Anwaltsgerichts für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer Hamm vom 11. Juni 2003 – EV 701/01 – und das Urteil des Anwaltsgerichtshofs des Landes Nordrhein-Westfalen vom 5. März 2004 – (2) 6 EVY 13/03 AGH NW – verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Anwaltsgericht zurückverwiesen.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine anwaltsgerichtliche Verurteilung.

I.

1. a) Die Beschwerdeführerin ist Rechtsanwältin im Bezirk des Oberlandesgerichts H. Im Jahr 2000 war sie selbst vor dem Amtsgericht R. auf Zahlung von 150 DM für eine Transportleistung in Anspruch genommen worden. Die Gegenseite wurde von der Rechtsanwältin K. vertreten. In dem Verfahren nahm sie auf einen von dieser gestellten Antrag mit Schriftsatz an das Amtsgericht mit folgenden Worten Stellung:

„Die Ausführungen zeugen von bemerkenswerter fachlicher Inkompetenz. (…)“.

In einem weiteren, unmittelbar an die Prozessbevollmächtigte der Klägerseite gerichteten Schreiben äußerte sie:

„Ich gehe davon aus, dass Sie des Lesens kundig sind und in der Lage sind, den Kostenfestsetzungsbeschluss zu lesen. Notfalls können Sie sich durch einen juristisch Kundigen erklären lassen, wer wem was schuldet. (…)“.

Diesen Sachverhalt zeigte ein Rechtsanwalt aus der Kanzlei der Rechtsanwältin K. bei der Rechtsanwaltskammer H. an und bat um standesrechtliche Überprüfung. Daneben bat er darum zu prüfen, ob der Internetauftritt der Beschwerdeführerin zulässig sei. Die Rechtsanwaltskammer leitete wegen der angezeigten Äußerungen ein Beschwerdeverfahren gegen die hiesige Beschwerdeführerin ein. Nachdem diese mehreren Aufforderungen zur Stellungnahme gem. § 56 Abs. 1 BRAO nicht nachgekommen war, drohte der Vorstand der Rechtsanwaltskammer ihr an, ein Zwangsgeld gegen sie festzusetzen. Daraufhin äußerte sich die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 19. Juli 2001 an die Rechtsanwaltskammer wie folgt:

„In vorbezeichneter Angelegenheit teile ich mit, dass ich keine Veranlassung zu einer Stellungnahme sehe. Im Übrigen kann man sich eine Stellungnahme ohnehin sparen, da es Ihnen in jeder Hinsicht an Objektivität mangelt. Das Einzige, was Sie produzieren, sind vorgefasste ‚Beschlüsse’ in erstklassiger Reißwolfqualität.

Der Sache nach ist es so, dass ich von Frau K. beleidigt und verleumdet wurde. Selbstredend ist dies kein Grund für eine vor Parteilichkeit aus jedem Knopfloch triefende Kammerbesetzung, dagegen vorzugehen. Im Wiederholungsfalle werde ich der Dame das Maul zu stopfen wissen.

Ich beanstande ihren ‚Beschluss', an dem ein Herr K. mitgewirkt hat. Herr K. hat wegen Nazi-Sprüchen seinen Posten als Kreisdirektor in R. verloren. Ich lehne es grundsätzlich ab, mich mit solchen Personen abzugeben.“

b) Mit Schreiben vom 18. Oktober 2001 teilte die Generalstaatsanwaltschaft H. der Beschwerdeführerin daraufhin mit, dass sie auf Anregung des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer ein anwaltsgerichtliches Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet habe. Hierauf erwiderte die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 19. November 2001 an die Generalstaatsanwaltschaft. Darin erklärte sie, dass sie der Rechtsanwaltskammer nicht freiwillig angehöre, sondern es sich um eine Zwangsmitgliedschaft handele, die sie für nicht mehr zeitgemäß halte, und führte sodann wörtlich aus:

„Wie die historischen Ereignisse im 3. Reich zeigen, sind die Berufskammern diejenigen, die mit besonderem Eifer gegen Menschenrechte verstoßen und die ihnen eingeräumten Befugnisse dazu missbrauchen, unliebsame Konkurrenten, die sie aus Standesdünkel verlogen ‚Kollegen’ nennen, aus dem Wege zu räumen. Insoweit unterscheidet sich die Anwaltskammer H. in keiner Hinsicht von anderen Berufskammern.“

Außerdem wies sie darauf hin, dass sich die Rechtsanwältin K. ihrerseits unsachlich verhalten habe, indem sie im Termin zur mündlichen Verhandlung bei dem Amtsgericht behauptet habe, die Beschwerdeführerin sei nicht in der Lage, 150 DM zu bezahlen. Überdies habe sich die Rechtsanwältin in einem Schriftsatz an das Gericht ebenfalls unsachlich zur Frage der Vorsteuerabzugsberechtigung der Beschwerdeführerin geäußert. Dass die Rechtsanwaltskammer dennoch nur Anlass sehe, gegen sie, nicht aber gegen ihre Berufskollegin vorzugehen, zeuge von der Einseitigkeit und der Parteilichkeit der Kammer. Schließlich machte sie geltend, dass sie lediglich von ihrem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht habe, weshalb ein Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot nicht gegeben sei.

Mit Schreiben vom 12. Dezember 2001 teilte die Generalstaatsanwaltschaft H. dem Vorstand der Rechtsanwaltskammer H. mit, dass sie eine anwaltsgerichtliche Maßnahme gegen die Beschwerdeführerin nicht für angebracht halte. Das Verfahren betreffe eine Streitigkeit zweier Rechtsanwältinnen, die beide in ihrer Wortwahl „nicht gerade sanft“ miteinander umgegangen seien, wobei das auslösende Moment offenbar die Äußerung der Rechtsanwältin K. in der mündlichen Verhandlung vom 28. November 2000 gewesen sei. Es sei daher beabsichtigt, das Verfahren gem. § 153 StPO einzustellen. Der Vorstand der Rechtsanwaltskammer zeigte sich hiermit in Bezug auf die wechselseitigen Vorwürfe der Rechtsanwältinnen einverstanden. Demgegenüber hielt er im Hinblick auf die Schreiben der Beschwerdeführerin vom 19. Juli 2001 und vom 19. November 2001 ein Anwaltsgerichtsverfahren für notwendig.

c) Die Generalstaatsanwaltschaft schuldigte die Beschwerdeführerin daraufhin an, durch die oben zitierten Äußerungen in den Schreiben vom 19. Juli und 19. November 2001 gegen das berufsrechtliche Sachlichkeitsgebot verstoßen zu haben. Darauf, dass die Beschwerdeführerin der Aufforderung der Rechtsanwaltskammer zur Stellungnahme zunächst nicht entsprochen hatte, bezog sich die Anschuldigungsschrift nicht.

2. a) Mit dem hier angegriffenen Urteil vom 11. Juni 2003 erteilte das Anwaltsgericht für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer H. der bereits mehrfach einschlägig vorbelasteten Beschwerdeführerin aufgrund der Äußerungen in beiden Stellungnahmen einen Verweis und verhängte eine Geldbuße von 7.000 €. Zur Begründung führt es aus, die Beschwerdeführerin habe sich mit ihren schriftlichen Äußerungen unsachlich verhalten, ohne dass ihr dazu Anlass gegeben worden sei, und damit gegen ihre anwaltlichen Berufspflichten verstoßen. Die Äußerungen seien anmaßend und beleidigend.

b) Die hiergegen gerichtete Berufung der Beschwerdeführerin wies der Anwaltsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen mit dem ebenfalls angegriffenen Urteil vom 5. März 2004 zurück. Die Beschwerdeführerin habe gegen das in § 43a Abs. 3 BRAO geregelte Sachlichkeitsgebot verstoßen. Als unsachlich in diesem Sinne seien insbesondere herabsetzende Äußerungen anzusehen, zu denen andere Beteiligte oder der Verfahrensverlauf keinen Anlass gegeben hätten. Bei den Äußerungen der Beschwerdeführerin habe es sich um solche herabsetzenden Äußerungen gehandelt, die die Grenze zur strafrechtlichen Beleidigung überschritten hätten.

c) Die Nichtzulassungsbeschwerde verwarf der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 14. November 2005.

3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde macht die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Grundrechts auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 GG) geltend. Die Anwaltsgerichte hätten bei ihren Entscheidungen die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere die Entscheidung BVerfGE 76, 171 missachtet. Auch in anderen Fällen habe die Rechtsanwaltskammer H. gegen sie, die Beschwerdeführerin, in parteilicher Weise Unrechtsentscheidungen gefällt. Die Voraussetzungen einer strafbaren Beleidigung seien nicht gegeben, ebenso wenig habe sie Unwahrheiten verbreitet oder sich ohne von der Rechtsanwaltskammer H. gegebenen Anlass herabsetzend geäußert. Zudem meint sie, die Rechtsanwaltskammer hätte im vorliegenden Fall gar nicht entscheiden dürfen, weil sie selbst Adressat der angeblichen Beleidigung sei. Der Anwaltskammer mangele es an Objektivität.

4. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, der Präsident des Bundesgerichtshofs und der Präsident der Rechtsanwaltskammer H. hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).

1. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen Fragen bereits entschieden. Dies gilt namentlich für den Einfluss des Grundrechts auf Meinungsfreiheit bei der Auslegung und Anwendung grundrechtsbeschränkender Vorschriften des einfachen Rechts (vgl. BVerfGE 82, 43 <50 ff.>; 93, 266 <292 ff.>) sowie die verfassungsrechtlichen Grenzen des inzwischen in § 43a Abs. 3 Satz 1 BRAO ausdrücklich normierten Sachlichkeitsgebots (vgl. BVerfGE 76, 171 [zur Rechtslage vor Inkrafttreten des § 43a BRAO]; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. Juli 1996 – 1 BvR 873/94 –, NStZ 1997, S. 35, und vom 15. April 2008 – 1 BvR 1793/07 –, NJW 2008, S. 2424).

2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt, § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG. Die geltend gemachte Grundrechtsverletzung ist gewichtig, weil die Beschwerdeführerin mit einer schwerwiegenden anwaltsgerichtlichen Maßnahme belegt wurde. Bei dem Verweis gem. § 114 Abs. 1 Nr. 2 BRAO handelt es sich bereits um eine erhebliche Disziplinarstrafe (vgl. Feuerich/Weyland, BRAO, 7. Aufl. 2008, § 114 Rn. 12). Der Verweis hat zur Folge, dass der mit ihm belegte Rechtsanwalt für die Dauer von fünf Jahren nicht zum Vorstand der Rechtsanwaltskammer (vgl. § 66 Nr. 3 BRAO) und zur Satzungsversammlung (vgl. § 191b Abs. 3 BRAO) gewählt und zum Mitglied der Anwaltsgerichte berufen (vgl. § 94 Abs. 3, § 103 Abs. 2, § 108 Abs. 1 BRAO) werden kann. Hinzu kommt, dass der Verweis hier gem. § 114 Abs. 2 BRAO mit einer Geldbuße (§ 114 Abs. 1 Nr. 3 BRAO) in nicht nur geringfügiger Höhe (7.000 €) verbunden wurde.

3. Die Verfassungsbeschwerde ist auch zulässig und im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG.

a) Die in dem anwaltsgerichtlichen Ausgangsverfahren gegenständlichen Äußerungen unterfallen dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit. Es handelt sich jedenfalls überwiegend um Werturteile, die unbeschadet ihrer polemischen Qualität dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG unterfallen.

b) Allerdings ist die der Verurteilung zugrundeliegende Vorschrift des § 43a Abs. 3 BRAO ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG, gegen dessen Verfassungsmäßigkeit keine Bedenken bestehen (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. Juli 1996 – 1 BvR 873/94 –, NStZ 1997, S. 35, und vom 15. April 2008 – 1 BvR 1793/07 –, NJW 2008, S. 2424). Die Auslegung und Anwendung dieser Rechtsnorm ist Sache der dafür zuständigen Anwaltsgerichte. Jedoch ist die wertsetzende Bedeutung des durch die einfachgesetzliche Vorschrift eingeschränkten Grundrechts auch auf der Ebene der Rechtsanwendung zu gewährleisten (vgl. BVerfGE 7, 198 <208 f.>; 93, 266 <292>; stRspr). Ein Grundrechtsverstoß, den das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hat, liegt insbesondere dann vor, wenn das Fachgericht den grundrechtlichen Einfluss überhaupt nicht berücksichtigt oder unzutreffend eingeschätzt hat und die Entscheidung auf der Verkennung des Grundrechtseinflusses beruht (vgl. BVerfGE 95, 28 <37>; 97, 391 <401>).

In der Regel ist der Ausstrahlungswirkung durch eine im Rahmen der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale vorzunehmende Abwägung zwischen dem Gewicht der Grundrechtsbeeinträchtigung einerseits und der Bedeutung des von dem angewandten Gesetz geschützten Rechtsguts andererseits Rechnung zu tragen. In Fällen, in denen die Zulässigkeit einer Äußerung in Frage steht, ist Ausgangspunkt dieser Abwägung die zutreffende Deutung des Aussageinhalts. Bereits auf dieser Ebene sind die Anforderungen des Art. 5 Abs. 1 GG zu beachten (vgl. BVerfGE 93, 266 <295 f.>; 107, 275 <281>; stRspr). Auch die sich hieraus speziell für die Anwendung des anwaltsrechtlichen Sachlichkeitsgebots ergebenden Grenzen hat das Bundesverfassungsgericht bereits bezeichnet (vgl. BVerfGE 76, 171 <191 ff.>). Als Folgerungen aus dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit beanspruchen diese Maßstäbe, auch wenn in Bezug auf die Rechtslage vor der gesetzlichen Normierung des Sachlichkeitsgebots in § 43a BRAO formuliert, nach wie vor Gültigkeit.

c) Die angegriffenen Entscheidungen werden ihnen nicht gerecht. Die Entscheidungsgründe beider angegriffener Urteile erschöpfen sich im Wesentlichen darin, die der Beschwerdeführerin vorgeworfene Äußerung zu referieren und sie ohne nähere Begründung als „anmaßend und beleidigend“ zu bewerten. Diese Ausführungen lassen auf keiner Stufe der Normanwendung erkennen, dass die Gerichte sich der hierbei zu beachtenden Anforderungen aus Art. 5 Abs. 1 GG bewusst waren.

So legen beide Urteile schon nicht offen, von welcher Deutung der inkriminierten Äußerungen sie ausgehen. Hierzu hätte allerdings mindestens hinsichtlich eines Teils der durch die Gerichte als ehrverletzend beurteilten Äußerungen Anlass bestanden. So hat die Beschwerdeführerin im Berufungsverfahren ausgeführt, dass ihre Aussage zu Menschenrechtsverstößen durch die Rechtsanwaltskammern durch Vorkommnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus belegt sei. Vor diesem Hintergrund hätte es nahe gelegen zu erwägen, ob die Stellungnahme, die die Beschwerdeführerin in dem anwaltsgerichtlichen Ermittlungsverfahren abgegeben hat, auch dahingehend verstanden werden konnte und zugunsten der Beschwerdeführerin musste (vgl. BVerfGE 114, 339 <349>), dass die Organe der Rechtsanwaltskammern sich ihrer eigenen Vergangenheit bewusst sein und ihre Befugnisse gegenüber ihren Mitgliedern mit besonderem Augenmaß wahrnehmen sollten. Zwar ist die Behauptung, die Berufskammern verstießen mit besonderem Eifer gegen Menschenrechte, in der Zeitform des Präsens formuliert. Da aber ein gegenwärtiges Geschehen nicht sinnvoll durch historische Vorkommnisse belegt werden kann („Wie die historischen Ereignisse […] zeigen…“), erscheint ein dahingehendes Verständnis der Äußerung, dass der Rechtsanwaltskammer H. oder ihrem Vorstand in seiner derzeitigen Besetzung aktuelle Menschenrechtsverstöße vorgeworfen werden, jedenfalls nicht als derartig zwingend, dass die Gerichte auf eine Erörterung der dargestellten Alternativdeutung verzichten konnten.

Für die Deutung der Äußerungen und vor allem für die Beurteilung ihrer Zulässigkeit kann es zudem auf die Ermittlung von deren Anlass und Vorgeschichte ankommen. Auch hierzu fehlt es an jeglichen Feststellungen. Insbesondere lassen die Urteile keinerlei Auseinandersetzung mit dem Vorbringen der Beschwerdeführerin zu früheren durch die Rechtsanwaltskammer gegen sie betriebenen Verfahren sowie zu dem Zustandekommen des Verfahrens, in dem die inkriminierten Äußerungen erfolgten, erkennen.

Auch fehlt es an jeglicher Abwägung der einschlägigen Grundrechtspositionen. Zwar begegnet der Ausgangspunkt der Gerichte, wonach ein Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot gem. § 43a Abs. 3 BRAO dann vorliege, wenn die Äußerung eines Rechtsanwalts die Grenze zu einer strafbaren Ehrverletzung überschreite, keinen verfassungsrechtlichen Bedenken; sie entspricht vielmehr gerade der der gesetzlichen Normierung dieser Standespflicht zugrunde liegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 76, 171 <193>). Jedoch genügt die Feststellung, dass die Äußerungen der Beschwerdeführerin beleidigend gewesen seien und den Straftatbestand des § 185 StGB erfüllt hätten, nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die Gerichte hätten vielmehr erwägen müssen, ob der Beschwerdeführerin der Rechtfertigungsgrund des § 193 StGB zur Seite steht, weil sie die Äußerungen in Wahrnehmung berechtigter Interessen getan hat (vgl. BVerfGE 93, 266 <291>). Im Rahmen der Tatbestandsmerkmale dieser Norm hätten sie der wertsetzenden Bedeutung der Grundrechte der Beschwerdeführerin durch eine Abwägung zwischen den widerstreitenden Rechtspositionen Geltung verschaffen müssen.

Dies war hier auch nicht etwa deshalb entbehrlich, weil die der Beschwerdeführerin vorgeworfenen Äußerungen als Formalbeleidigung oder Schmähkritik zu qualifizieren wären. Denn eine solche Schmähung, die regelmäßig zu einem Zurücktreten des Rechts auf Meinungsfreiheit führt, ist von den Gerichten weder hinreichend begründet worden, noch sind die Voraussetzungen, unter denen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Äußerung als Schmähkritik anzusehen ist (vgl. BVerfGE 82, 272 <282>; 93, 266 <294>), vorliegend von sich aus offensichtlich. Hiernach stellt auch eine überzogene oder gar ausfällige Kritik nicht ohne Weiteres eine Schmähung dar. Hinzutreten muss vielmehr, dass bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. So liegt der Fall hier aber nach dem von den Gerichten festgestellten Sachverhalt nicht, denn die Beschwerdeführerin kritisiert, wenn auch in scharfer, womöglich überzogener Form aus Anlass zweier gegen sie geführter berufsrechtlicher Verfahren eine angeblich voreingenommene Haltung der Rechtsanwaltskammer H. Die ihr vorgeworfenen Äußerungen fielen somit innerhalb einer Sachauseinandersetzung um das Gebaren einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (vgl. § 62 Abs. 1 BRAO), deren Pflichtmitglied die Beschwerdeführerin ist (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 2 BRAO) und deren Jurisdiktion sie in gewissem Umfang unterliegt (vgl. § 73 Abs. 2 Nr. 4 BRAO). Danach erscheint die Annahme von Schmähkritik hier deshalb eher fernliegend, weil bei Äußerungen, die sich als Kritik an der Ausübung hoheitlicher Gewalt darstellen, der Meinungsfreiheit ein besonderes Gewicht zukommt; denn das Grundrecht ist gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen und findet darin unverändert seine Bedeutung (vgl. BVerfGE 93, 266 <293>).

Hinzu kommt, dass die Beschwerdeführerin die ihr vorgeworfenen Aussagen nicht in der typischen Stellung einer die Interessen ihres Mandanten vertretenden Rechtsanwältin, sondern jeweils als Betroffene im Rahmen eines gegen sie geführten berufsgerichtlichen Verfahrens getan hat. Wieweit sich dieser Umstand auf die Bindung an das Sachlichkeitsgebot auswirkt, ist eine Frage des einfachen Rechts, die hier nicht zu entscheiden ist (vgl. hierzu BGH, Senat für Anwaltssachen, Beschluss vom 26. Mai 1986 – AnwZ (B) 11/86 –, juris; Feuerich/Weyland, a.a.O., § 56 Rn. 19). Verfassungsrechtlich waren die Fachgerichte aber jedenfalls gehalten zu erwägen, ob das Gewicht der auf Seiten der Beschwerdeführerin zu berücksichtigenden rechtlich geschützten Interessen vorliegend durch die Auswirkungen des Rechtsstaatsprinzips erhöht war. Denn die hieraus und aus dem Recht auf rechtliches Gehör folgende Befugnis, sich in einem gerichtlichen Verfahren wirkungsvoll zu verteidigen, erfordert neben institutionellen Vorkehrungen auch, dass der Bürger gegenüber den Organen der Rechtspflege, ohne Rechtsnachteile befürchten zu müssen, diejenigen Handlungen vornehmen kann, die nach seiner von gutem Glauben bestimmten Sicht geeignet sind, sich im Prozess zu behaupten (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Juni 1990 – 2 BvR 674/88 –, NJW 1991, S. 29 und vom 11. April 1991 – 2 BvR 963/90 –, NJW 1991, S. 2074 <2075>). Hieraus folgt, dass ein Verfahrensbeteiligter im „Kampf um das Recht“ auch starke, eindringliche Ausdrücke benutzen darf, um seine Rechtsposition zu unterstreichen (vgl. BVerfGE 76, 171 <192>; BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 10. Juli 1996 – 1 BvR 873/94 –, NStZ 1997, S. 35 und der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. März 1999 – 1 BvR 734/98 –, NJW 2000, S. 199 <200>), zumal wenn es sich um Äußerungen handelt, die lediglich gegenüber Verfahrensbeteiligten abgegeben werden, ohne dass sie Außenstehenden zur Kenntnis gelangen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob er seine Kritik auch anders hätte formulieren können, denn auch die Form der Meinungsäußerung unterliegt grundsätzlich der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Selbstbestimmung (vgl. BVerfGE, 54, 129 <138 f.>; 76, 171 <192>).

Die Gerichte hätten daher der Frage nachgehen müssen, ob die Beschwerdeführerin die inkriminierten Formulierungen wählen durfte, um sich wirksam gegen die Androhung des Zwangsgeldes zur Wehr zu setzen und ihre Rechte in dem anschließend eingeleiteten anwaltsgerichtlichen Ermittlungsverfahren wahrzunehmen. Hierbei hätten sie zwar keineswegs zwingend zu einer Freisprechung der Beschwerdeführerin kommen müssen. Das Ergebnis der erforderlichen Abwägung ist verfassungsrechtlich nicht vorgegeben (vgl. BVerfGE 93, 266 <293>). Auch soweit aus dem Rechtsstaatsprinzip eine Privilegierung von Äußerungen folgt, die der Rechtsverteidigung in einem gerichtlichen oder behördlichen Verfahren dienen, gilt diese nicht unbegrenzt, sondern nur insoweit, als die fragliche Äußerung zur Rechtswahrung geeignet und erforderlich sowie der Rechtsgüter- und Pflichtenlage angemessen ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Juni 1990 – 2 BvR 674/88 –, NJW 1991, S. 29 und vom 11. April 1991 – 2 BvR 963/90 –, NJW 1991, S. 2074 <2075>).

Da aber auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Gerichte bei Beachtung der Bedeutung und Tragweite der Grundrechte, insbesondere der Meinungsäußerungsfreiheit der Beschwerdeführerin zu einem anderen Ergebnis gekommen wären, beruhen die angegriffenen Entscheidungen auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Defiziten.

4. Der hier nicht angegriffene Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 14. November 2005, mit dem dieser die Nichtzulassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin verworfen hat, wird mit der Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen gegenstandslos.

5. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.






BVerfG:
Beschluss v. 10.03.2009
Az: 1 BvR 2650/05


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