Bundespatentgericht:
Beschluss vom 27. August 2007
Aktenzeichen: 19 W (pat) 318/05

(BPatG: Beschluss v. 27.08.2007, Az.: 19 W (pat) 318/05)

Tenor

Das Patent 101 43 922 wird mit folgenden Unterlagen beschränkt aufrechterhalten:

Patentansprüche 1 bis 9 und Beschreibung Absatz 0001 bis 0026, jeweils überreicht in der mündlichen Verhandlung, sowie 4 Seiten Zeichnungen, Figuren 1 bis 4 gemäß Patentschrift.

Gründe

I Das Deutsche Patent- und Markenamt hat für die Anmeldung vom 7. September 2001 ein Patent mit der Bezeichnung "Scharnier" erteilt und die Patenterteilung am 7. Oktober 2004 veröffentlicht.

Gegen das Patent haben die Firmen M... GmbH & Co. KG und S... S.p.A. Einspruch erhoben. Zur Begründung haben sie vor- getragen, der Gegenstand des Patents sei unter Berücksichtigung des Standes der Technik nicht neu, bzw beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Die Einsprechende I ist ankündigungsgemäß nicht erschienen. Sie hat schriftsätzlich erklärt, den Antrag auf Widerruf des Patents aufrechtzuerhalten.

Die Einsprechende II stellte den Antrag, das Patent zu widerrufen.

Sie ist der Ansicht, der Gegenstand des gültigen Patentanspruchs 1 ergebe sich für den Fachmann aufgrund seiner Fachkenntnis in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik nach der DE 27 03 489 A1 in Verbindung mit der in der Verhandlung übergebenen DE 1 867 322 U1.

Die Patentinhaberin beantragt, das Patent mit folgenden Unterlagen beschränkt aufrechtzuerhalten:

Patentansprüche 1 bis 9, überreicht in der mündlichen Verhandlung, Beschreibung Absätze 0001 bis 0026, überreicht in der mündlichen Verhandlungsowie Zeichnungen, 4 Seiten, Figuren 1 bis 4, gemäß Patentschrift.

Die Patentinhaberin ist der Meinung, der Stand der Technik stehe dem Gegenstand des Anspruchs 1 nicht entgegen.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II Gemäß §147 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 PatG in der letztgültigen Fassung vom 9. Dezember 2004 liegt die Entscheidungsbefugnis über die zulässigen und vor der Aufhebung des § 147 Abs. 3 PatG eingelegten Einsprüche bei dem hierfür zuständigen 19. Senat (Technischer Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts, wie in dem Beschluss 19 W (pat) 344/04 ausführlich dargelegt wurde und in den Beschlüssen des Bundesgerichtshofs vom 17. April 2007 (X ZB 9/06) und vom 22. Juni 2007 (X ZB 6/05) - Informationsübermittlungsverfahren I und II insoweit bestätigt worden ist.

Gegenstand des Verfahrens ist das erteilte Patent.

Die Einsprüche sind zulässig und haben insoweit Erfolg, als das Patent mit den in der mündlichen Verhandlung überreichten Ansprüchen 1 bis 9 beschränkt aufrechtzuerhalten war.

1. Gegenstand des Patents Das vorliegende Patent betrifft ein Möbelscharnier. Wie die Patentschrift ausführt, seien derartige Möbelscharniere in zahlreichen unterschiedlichen Ausführungsformen bekannt. Bei herkömmlichen Möbelscharnieren mit Doppelhebelmechanismus sei vorgesehen, dass auf einen der Hebel über eine Feder eine in Schließrichtung des Scharniers wirkende Kraft ausgeübt wird.

Möbeltüren, Klappen oder Schubladen würden häufig mit sogenannten Touch-Latch-Beschlägen versehen, bei denen ein geringfügiges Eindrücken der Tür zu einer geringfügigen Öffnungsbewegung führe, die ein Hintergreifen mit der Hand ermögliche. Die die Öffnungsbewegung bewirkende Kraft werde dabei von dem Touch-Latch-Beschlag oder einem separaten Federelement aufgebracht. Diese Kraft wirke entgegen der obengenannten Schließkraft, was dazu führe, dass das Federelement bzw. der Touch-Latch-Beschlag relativ leistungsfähig ausgeführt werden müsse.

Es sei deshalb Aufgabe der Erfindung, ein Scharnier derart auszubilden, dass die zum Öffnen der Tür oder Klappe erforderliche Kraft gering (im Vergleich zu der zum Eindrücken des oben genannten starken Federelements erforderlichen Kraft) gehalten werden kann (Abs. 0005 des Streitpatents und der geltenden Beschreibung). Diese Aufgabe werde mit einem Scharnier nach Anspruch 1 gelöst.

Dieses Scharnier ist zwar für den Einsatz zusammen mit einem Touch-Latch-Beschlag vorgesehen. Letzterer ist aber nicht beansprucht.

Der geltende, in der mündlichen Verhandlung übergebene (mit eingefügten Gliederungsziffern in Merkmalsgruppen unterteilte) Patentanspruch 1 lautet:

Möbelscharnier (10)

1) mit einem Korpusbeschlagskörper (20)

2) sowie mit einem Türbeschlagskörper (22), der mittelbar schwenkbar mit dem Korpusbeschlagskörper (20) in Verbindung steht, 3) wobei ein erster Hebel (30) schwenkbar an dem Korpusbeschlagskörper (20) sowie an dem Türbeschlagskörper (22) angelenkt ist, 4) wobei eine Öffnungseinrichtung vorgesehen ist, durch die eine in Öffnungsrichtung des Türbeschlagskörpers (22) wirkende Kraft auf den ersten Hebel (30) ausgeübt wird, dadurch gekennzeichnet, 5) dass die Öffnungseinrichtung derart ausgeführt ist, 5.1) dass sie eine geringfügige Öffnung der Tür nur in einem Bereich von der Schließstellung bis zu einem begrenzenden Öffnungswinkel des Scharniers (10) bewirkt, wodurch ein Hintergreifen mit der Hand ohne weiteres möglich ist, 5.2) und das Scharnier außerhalb dieses Bereichs frei bewegbar ist.

2. Offenbarung und Zulässigkeit der geltenden Ansprüche Die Ansprüche 1 bis 9 sind zulässig. Der geltende Anspruch 1 setzt sich zusammen aus den ursprünglichen, unverändert erteilten Ansprüchen 1 und 2, ergänzt um Merkmale, die in der ursprünglichen Beschreibung Seite 7, Absatz 2 (Streitpatentschrift [0026]) offenbart sind. Die Ansprüche 2 bis 9 entsprechen den ursprünglichen, unverändert erteilten Ansprüchen 3 bis 10.

3. Fachmann Der zuständige Fachmann ist ein Fachhochschulingenieur der Fachrichtung Maschinenbau mit Berufserfahrung auf dem Gebiet der Tür- und Möbelbeschläge.

4. Verständnis des Anspruchs 1 Das Merkmal 4 wird der Fachmann so verstehen, dass die Kraft das Scharnier bzw. die Tür zu öffnen versucht. Die Kraftrichtung am Angriffspunkt des ersten Hebels - beim Ausführungsbeispiel nach Fig. 1 und 3 etwa parallel zur geschlossen Tür - wird er dadurch nicht als definiert ansehen.

Das Merkmal 5 und 5.1 wird der Fachmann so verstehen, dass die Öffnungseinrichtung die Tür um einen geringfügigen ("begrenzenden") Öffnungswinkel aufdrückt, der groß genug, aber auch nicht wesentlich größer ist, als zum Hintergreifen der Tür notwendig ist.

Dass das Scharnier nach Merkmal 5.2 außerhalb dieses Bereichs frei beweglich ist, wird der Fachmann so verstehen, dass in diesem Bereich keine Kraft auf das Scharnier ausgeübt wird, insbesondere nicht von der Öffnungseinrichtung.

5. Neuheit Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist neu.

Die DE 27 03 489 zeigt ein Schnäpperscharnier mit einer Viergelenk-Hebelmechanik, wie es für Möbeltüren weit verbreitet ist. Eine Schenkelfeder 28 übt dabei in der Schließstellung ein schließendes, in der Offenstellung ein öffnendes Moment aus (S. 7 der handschriftlichen Nummerierung, Abs. 2). Dabei übt sie über den gesamten Öffnungswinkel ein hinreichend hohes Öffnungs- bzw. Schließmoment aus, um die Tür in jedem Falle bis in die gewünschte Endstellung zu überführen (S. 5, Abs. 1 der schriftlichen Nummerierung).

In Übereinstimmung mit dem Gegenstand des Anspruchs 1 ist damit bekannt ein:

Möbelscharnier 1) mit einem Korpusbeschlagskörper 16 2) sowie mit einem Türbeschlagskörper 14 der mittelbar schwenkbar mit dem Korpusbeschlagskörper in Verbindung steht (S. 6, Abs. 6 der handschriftlichen Nummerierung), 3) wobei ein erster Hebel 18 schwenkbar an dem Korpusbeschlagskörper 16 sowie an dem Türbeschlagskörper 14 angelenkt ist, 4) wobei eine Öffnungseinrichtung 28 vorgesehen ist, durch die eine (im Bereich der Offenstellung) in Öffnungsrichtung des Türbeschlagskörpers wirkende Kraft auf den ersten Hebel 18 ausgeübt wird (S. 6/7 der handschriftlichen Nummerierung seitenübergreifender Absatz).

Im Unterschied zu den Merkmalen 5 und 5.1 bewirkt die Feder 28 nur im Bereich der Offenstellung eine öffnende Kraft, im Bereich der Schließstellung hingegen eine schließende Kraft. Einen Bereich, in dem das Scharnier nach Merkmal 5.2 frei bewegbar ist, gibt es nicht.

Das Gebrauchsmuster DE 1 867 322 U1 zeigt ein Möbelscharnier, das die Tür selbsttätig öffnet, sobald sie ausgeklickt ist (S. 1, Abs. 3). Sie soll rasch und vollständig geöffnet werden, indem ohne Gebrauch der z. B. sterilisierten Hände je nach Bedarf der Handrücken, der Vorarm ein Ellbogen oder ein Knie dafür herangezogen werden (S. 1/2, seitenübergreifender Absatz). Das heißt, ein Hintergreifen der Tür, um sie mit der Hand zu öffnen, soll vermieden werden. Hauptkennzeichen dieses Scharniers ist eine Feder 10, deren Federenden hakenförmig ausgebildet sind, um in die Brücke 9 des Türbeschlagskörpers 6 einzuhaken (S. 2, Abs. 2, S. 4, Abs. 2).

Auf S. 2, Abs. 3 wird ausgeführt, dass durch eine entsprechende Öffnungsspannweite der Feder in ihrer Ruhestellung das (motorische) Drehmoment annulliert werden kann, noch bevor die Tür vollständig offen ist, in der Weise, dass die Tür den letzten Teil ihrer Öffnungsbewegung infolge Massenträgheit durchläuft. Hierdurch werde ein heftiges Anprallen, sowie der Anschlaglärm vermieden (S. 3, Abs. 1). Nach Überzeugung des Senats wird das der Fachmann so verstehen, dass die Feder bereits vor der Endstellung ihre Ruheposition erreicht, und dann über die Ruheposition hinaus in die andere Richtung gedehnt wird, wobei sie ein bremsendes Moment ausübt und damit den Anprall am Endanschlag dämpft oder vermeidet.

Die in den Figuren dargestellte Feder könnte zwar auch von der Brücke 9 oder dem Topfboden abheben und damit das Scharnier freigeben, wenn sie bereits vor der Endstellung vollständig entspannt wäre. Sie tut es aber nicht wie Fig. 3 eindeutig zeigt. Der Senat geht davon aus, dass die auf Seite 2, Absatz 3 beschriebene Ausführungsform sich von der in den Figuren dargestellten Ausführungsform unterscheidet. Eine Kombination der beiden Ausführungsformen hält der Senat für spekulativ und nicht vom Fachmann mitzulesen.

Damit ist in Übereinstimmung mit dem Gegenstand des Anspruchs 1 bekannt ein Möbelscharnier 1) mit einem Korpusbeschlagskörper 6 2teilw) sowie mit einem Türbeschlagskörper 7 der schwenkbar mit dem Korpusbeschlagskörper in Verbindung steht, 4) wobei eine Öffnungseinrichtung 10, 11, 12 vorgesehen ist, durch die eine in Öffnungsrichtung des Türbeschlagskörpers wirkende Kraft auf den ersten Hebel ausgeübt wird.

Im Unterschied zum Gegenstand des Anspruchs 1, Merkmal 2 und 3 sind die Beschlagskörper direkt ohne ersten Hebel angelenkt. Die Öffnungseinrichtung bewirkt eine vollständige Öffnung der Tür, und ein Hintergreifen der Tür mit der Hand nach Merkmal 5.1 soll vermieden werden (S. 2, Abs. 1). Ein Bereich, in dem das Scharnier nach Merkmal 5.2 frei bewegbar ist, ist nicht vorgesehen.

Die US 4 532 675 zeigt ein KFZ-Türscharnier, unterscheidet sich somit schon dadurch von dem patentgemäßen Möbelscharnier. Es zeigt eine Feder, die nur in einem Bereich in der Nähe der Offenstellung wirkt, während im übrigen Bereich -ähnlich dem Merkmal 5.2 - das Scharnier frei beweglich ist. Weitere Berührungspunkte mit dem Gegenstand des Anspruchs 1 sind nicht ersichtlich.

Die weiteren noch im Verfahren befindlichen Druckschriften wurden in der mündlichen Verhandlung weder vom Senat noch von den Beteiligten aufgegriffen. Sie bringen auch keine neuen Gesichtspunkte, so dass auf sie nicht eingegangen zu werden braucht.

6. Erfinderische Tätigkeit Der Gegenstand des Anspruchs 1 beruht auch auf einer erfinderischen Tätigkeit.

Die in Absatz 0005 genannte Aufgabe könnte sich dem Fachmann nur dann von selbst stellen, wenn der Einsatz von federbelasteten Mehrgelenk-Möbelscharnieren zusammen mit Touch-Latch-Beschlägen öffentlich geworden wäre. Das ist aber nicht nachgewiesen. Die einzige Schrift, die einen Touch-Latch-Beschlag zeigt - die EP 802 345 A2 - betrifft ein Handschuhfach, Aschenbecher, Getränkehalter o. ä. in einem Kraftfahrzeug. Dort werden keine federbelasteten Mehrgelenk-Möbelscharniere verwendet.

Ausgehend von der DE 27 03 489 A1 sieht der Senat für den Fachmann keinen Anlass von der in Schließrichtung wirkenden Kraft abzugehen, denn sie ist bei dem dort beschriebenen Scharnier nötig, um die Tür geschlossen zu halten. Aber selbst bei einer Umkehr der Feder-Wirkrichtung ergäbe sich nur ein Scharnier mit einer öffnenden Kraft im Bereich der Schließstellung und einer schließenden Kraft im Bereich der Offenstellung ohne einen Bereich, in dem das Scharnier frei bewegbar ist.

Ausgehend von der DE 1 867 322 U1 mag der Fachmann zwar daran denken, eine zeitgemäße Mehrgelenkmechanik, z. B. die nach der DE 27 03 489 A1, einzusetzen. Aber auch dann käme er nur zu einem Scharnier, das die Tür vollständig öffnet und bei der ein Hintergreifen vermieden werden soll. Für eine geringfügige Öffnung der Tür zum Hintergreifen mit der Hand nach Merkmal 5.1 gibt es weder in der DE 1 867 322 U1 noch in der DE 27 03 489 A1 einen Hinweis. Das würde selbst dann gelten, wenn man dem Absatz 3, auf Seite 2 der DE 1 867 322 U1 einen Bereich freier Bewegbarkeit kurz vor dem Anschlag in Offenstellung unterstellen würde.

Der Erfinder hat nun erkannt, dass ein Mehrgelenkscharnier mit einer Öffnungseinrichtung, die die Tür zum Hintergreifen geringfügig öffnet, sich dazu eignet, zusammen mit einem Touch-Latch-Beschlag einen aufgabengemäß kraftsparenden Möbelbeschlag zu bilden. Dafür gab es im Stand der Technik keinen Hinweis.

Um zum Möbelscharnier nach Anspruch 1 zu kommen, bedurfte es somit erfinderischer Überlegungen.

7. Der Anspruch 1 ist somit rechtsbeständig.

Damit sind auch die Ansprüche 2 bis 9 rechtsbeständig.

Bertl Pagenberg Groß

Dr. Scholz Pr






BPatG:
Beschluss v. 27.08.2007
Az: 19 W (pat) 318/05


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