Landesarbeitsgericht Niedersachsen:
Beschluss vom 1. August 2012
Aktenzeichen: 2 TaBV 52/11

(LAG Niedersachsen: Beschluss v. 01.08.2012, Az.: 2 TaBV 52/11)




Zusammenfassung der Gerichtsentscheidung

Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen hat eine Beschwerde des Betriebsrats gegen einen Beschluss des Arbeitsgerichts Braunschweig abgewiesen. Es wurde festgestellt, dass der Spruch der Einigungsstelle über die Einführung und Anwendung einer Videoüberwachung rechtsunwirksam ist. Die Rechtsbeschwerde wurde nicht zugelassen.

In dem Verfahren hatte der Betriebsrat die Unwirksamkeit des Einigungsstellenspruches geltend gemacht, da dieser formell unwirksam sei. Der Spruch war nicht mit den Anlagen verbunden und die Anlagen waren weder unterzeichnet noch paraphiert. Zudem habe eine Beisitzerin der Arbeitgeberin an der Abstimmung teilgenommen, obwohl sie zuvor nicht an den Beratungen der Einigungsstelle beteiligt war. Außerdem seien den Mitgliedern der Einigungsstelle bei der Abstimmung keine Anlagen vorgelegen.

Das Arbeitsgericht hatte den Antrag des Betriebsrats zurückgewiesen und festgestellt, dass der Spruch der Einigungsstelle formell wirksam sei. Das Landesarbeitsgericht hingegen folgte der Argumentation des Betriebsrats und erklärte den Spruch für formell unwirksam.

Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts ist endgültig und kann nicht mit einer Rechtsbeschwerde angefochten werden.




Die Gerichtsentscheidung im Volltext:

LAG Niedersachsen: Beschluss v. 01.08.2012, Az: 2 TaBV 52/11


Tenor

Auf die Beschwerde des Betriebsrates wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 16. März 2011 - 7 BV 19/10 - abgeändert.

Es wird festgestellt, dass der Spruch der Einigungsstelle vom 27. November 2010 "Betriebsvereinbarung über die Einführung und Anwendung einer Videoüberwachung" rechtsunwirksam ist.

Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit eines Einigungsstellenspruches.

Der Antragsteller und Beteiligte zu 1. (im Folgenden: Betriebsrat) ist der im Betrieb der Beteiligten zu 2. (im Folgenden: Arbeitgeberin) gebildete Betriebsrat. Die Arbeitgeberin lagert in einem Hochregallager Vertriebserzeugnisse sowie andere Waren und liefert diese aus.

Am 14. Dezember 2009 einigten sich die Beteiligten in dem Verfahren vor dem Arbeitsgericht Braunschweig - 1 BV 19/09 - darauf, zu dem Regelungsgegenstand "Einführung und Anwendung von Videokameras, die geeignet sind, das Verhalten und die Leistung der Mitarbeiter zu überwachen, eine Einigungsstelle mit jeweils vier Beisitzern zu bilden (Bl. 19 - 21 d. A.). In der fünften Sitzung der Einigungsstelle am 27. November 2010 kam es ab ca. 14.50 Uhr zu Abstimmungen über Entwürfe von Betriebsvereinbarungen. Nachdem der Entwurf des Betriebsrates keine Mehrheit gefunden hatte, wurde gegen 15 Uhr der Entwurf des Einigungsstellenvorsitzenden mit den Stimmen der Arbeitgeberseite und des Vorsitzenden angenommen. Bei der Abstimmung wirkte für die Arbeitgeberin als Beisitzerin unter anderem Frau T. mit. Frau T. hatte an den vorangegangenen Sitzungen der Einigungsstelle nicht teilgenommen. In dem Protokoll der Einigungsstelle vom 27. November 2010 heißt es, dass ab 13.30 Uhr die Beisitzerin Frau T. für die Arbeitgeberin teilgenommen habe (Bl. 167 d. A.). In welchem Umfang sie am 27. November 2010 an den Beratungen der Einigungsstelle teilgenommen hat, ist zwischen den Beteiligten umstritten.

In dem von dem Einigungsstellenvorsitzenden unterzeichneten (Bl. 32 d. A.) Spruch der Einigungsstelle, die mit "Entwurf des Einigungsstellenvorsitzenden vom 27. November 2010" überschrieben ist, heißt es unter anderem (Bl. 24 ff. d. A.):

"

§ 1

Geltungsbereich

Die folgende Betriebsvereinbarung regelt die Einführung und Anwendung des Kameraüberwachungssystems Bosch Videosystem in den Betriebsgebäuden der Firma in der H. Straße und der B.-straße. Das Kamerasystem wird sowohl im Außen- als auch im Innenbereich eingeführt und angewendet.

In personeller Hinsicht fallen in den Anwendungsbereich der Betriebsvereinbarung alle Mitarbeiter der Firma, die in der H. Straße und/oder der B.-straße tätig sind, mit Ausnahme der leitenden Angestellten i.S.d. § 5 Abs. 3 BetrVG.

§ 3

Ziele der Kameraüberwachung

Das Kameraüberwachungssystem dient der Verwirklichung von zwei Zielen:

-Präventiv der Verhinderung von (weiteren) Straftaten, Ordnungswidrigkeiten und schwerwiegenden Pflichtverletzungen, die die VSB zu einer Kündigung aus wichtigem Grund berechtigen würden, insbesondere von Diebstählen, Einbrüchen und anderen Eigentumsdelikten, sowie der Beweissicherung.-der Produktionsoptimierung.€

§ 5

Systembeschreibung

1. Das Kameraüberwachungssystem ist beschaffen, wie nachfolgend beschrieben. Die Anlagen sind Bestandteil der Betriebsvereinbarung.

2. Bei den eingesetzten Kameras handelt es sich um Dinion XF Kameras sowie FlexiDome Kameras. Die Kameras sind nicht schwenkbar und zur Tonaufnahme nicht geeignet; Tonaufnahmen sind unzulässig. Die Art der Kamera (Dinion XF oder FlexiDome), der genaue Standort, die Funktion sowie der jeweilige Blickwinkel/die jeweilige Bildschärfe der Kameras sind den Anlage 1 und 2 dieser Betriebsvereinbarung, zu entnehmen. Damit sind Blickwinkel und Bildschärfe als Teil der Betriebsvereinbarung definiert. In Anlage 3 ist das System detailliert beschrieben.

3. Die Korrektheit der Systembeschreibung der Kameras, der Wiedergabe ihrer Standorte, ihrer Funktionen, der Definition der Blickwinkel und der Bildschärfe in den Anlagen 1, 2 und 3 ist durch die VSB ausdrücklich zugesichert.

§ 8

Zuordnung der Kameras

1. Für Außenbereichskameras, d. h. mit den Nummern H. Straße (HST) 1 - 12, 12 a, 13 - 20 sowie B.-straße 1 - 11 gelten neben den allgemeinen Regeln in §§ 1 - 9 zusätzlich die §§ 10 und 13 - 15.

2. Die Innenbereichskameras mit den Nummern 23 - 31, 34, 36 - 57 dienen der Produktionsoptimierung und sind auf die Lauf- und Produktionsanlagen gerichtet. Für deren Einrichtung und Anwendung gelten die §§ 1 - 9, 11, 13 - 15. Sie können darüber hinaus unter den Voraussetzungen des § 12 auch zum Diebstahlschutz aktiviert/eingesetzt werden.

3. Die Innenbereichskameras mit den Nummern 21, 22, 32, 33, 35 können unter den Voraussetzungen des § 12 auch zum Diebstahlschutz aktiviert/eingesetzt werden.

4. Der Firma bleibt es vorbehalten, weitere Kameras zu installieren, solange auch diese dem Mitarbeiterschutz, dem Diebstahlschutz und der Produktionsoptimierung dienen. Hierfür informiert die Firma zunächst den Betriebsrat. Über den genauen Standort der neuen Kamera sowie den erfassten Blickwinkel wird eine weitere Anlage 4 zu dieser Betriebsvereinbarung erstellt, sodass auch Blickwinkel und Bildschärfe der neuen Kameras als Teil der Betriebsvereinbarung definiert sind.

Damit auch neu installierte Kameras in den Anwendungsbereich der vorliegenden Betriebsvereinbarung fallen, müssen zudem folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

a. Außenbereichskameras können uneingeschränkt ergänzt werden, soweit sichergestellt ist, dass die Regelungen der §§ 1 - 9 sowie §§ 10, 13 - 15 dieser Vereinbarung eingehalten werden.

b. Innenbereichskameras mit dem Ziel der Produktionsoptimierung können uneingeschränkt ergänzt werden, soweit sichergestellt ist, dass die Regelungen der §§ 1 - 9 sowie §§ 11, 13 - 15 dieser Vereinbarung eingehalten werden.

c. Innenbereichskameras mit dem Ziel der Verminderung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten können ebenfalls uneingeschränkt unter Einhalten der Regelungen der §§ 1 - 9 sowie der §§ 12, 13 dieser Vereinbarung installiert werden.

€"

Bei den in §§ 5 und 8 der Betriebsvereinbarung benannten Anlagen handelt es sich um ein umfangreiches Anlagenkonvolut. Die Anlagen waren mit dem unterzeichneten Spruch der Einigungsstelle (Betriebsvereinbarung) nicht verbunden, sie sind weder unterzeichnet noch paraphiert.

Die Anlage 1 im Umfang von acht Blättern war für sich zusammengeheftet (Bl. 33 - 40 d. A.). Die Anlage 2 bestand aus drei Teilen, die im Umfang von 35, 20 und 11 Blättern jeweils für sich zusammengeheftet waren (Bl. 41 - 106 d. A.). Die Anlage 3 im Umfang von 18 Blättern war ebenfalls für sich zusammengeheftet (Bl. 107 - 124 d. A.). Eine Anlage 4 besteht bislang nicht.

Mit seinem am 10. Dezember 2010 beim Arbeitsgericht Braunschweig eingegangenen Antrag begehrt der Betriebsrat die Feststellung der Unwirksamkeit des Spruches der Einigungsstelle. Er vertritt die Ansicht, der Spruch sei bereits formell unwirksam, weil er weder mit den Anlagen fest verbunden sei noch die Anlagen paraphiert seien. Ferner habe Frau T. am 27. November 2010 nur an der Abstimmung, nicht jedoch an der vorherigen Beratung der Einigungsstelle teilgenommen. Der Betriebsrat habe sich gegen 13.30 Uhr zu einer Besprechung zurückgezogen. Zu diesem Zeitpunkt sei Frau T. noch nicht anwesend gewesen. Erst als er gegen 14.45 Uhr zurückgekehrt sei, sei Frau T. vor Ort gewesen und habe an der Abstimmung ab 14.50 Uhr teilgenommen. Ferner hätten zum Zeitpunkt der Abstimmung den Mitgliedern der Einigungsstelle keine der Anlagen vorgelegen. Dies sei deshalb erheblich, weil im Verlauf der Einigungsstelle einige Kameras neu eingestellt und einige Kameras von ihrem ursprünglichen Standort an einen anderen Standort versetzt worden seien. Angesichts solcher zentralen Änderungen hätte bei der Abstimmung zweifelsfrei feststehen müssen, um welche Kameras in welcher Position und an welchem Standort es in diesem Moment gehe. Die Anlagen zu der Betriebsvereinbarung seien erst nach dem Spruch in den Raum gebracht und dem Betriebsratsvorsitzenden gemeinsam mit der unterzeichneten Betriebsvereinbarung ausgehändigt worden. Diese Anlagen umfassten 66 Bildausschnitte, die in dieser Zusammenstellung dem Betriebsrat so nicht bekannt gewesen seien und die inhaltlich auch zumindest teilweise nicht mit den vorherigen Anlagen übereinstimmten. Aufgrund der Versendung unterschiedlicher Anlagen im Vorfeld - mal seien 66 Kameras in der aktuellen Anlage vorhanden gewesen, mal 69 - hätten die Mitglieder der Einigungsstelle im Zeitpunkt der Abstimmung nicht erkennen können, welche Anlagen Gegenstand der Abstimmung sein sollten. Der Gegenstand, über den abgestimmt worden sei, sei nicht eindeutig definiert und damit unklar gewesen.

Ferner überschreite der Spruch der Einigungsstelle die Grenzen des Ermessens. Der Einsatz der Kameras widerspreche dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, weil er nicht geeignet, erforderlich und angemessen sei. Der Zweck der "präventiven" Verhinderung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten sei kein zulässiger Zweck für eine Videoüberwachung. Straftaten in der Vergangenheit habe die Arbeitgeberin lediglich behauptet, nicht aber substantiiert dargelegt. Der Einsatz der Videokameras verstoße auch gegen § 32 BDSG. Für die Produktionsüberwachung sei die Installation der Kameras nicht erforderlich, weil bereits eine gegebenenfalls noch zu optimierende Produktionsüberwachung durch ein Lichtschrankensystem vorhanden sei. Die Videoüberwachung sei auch nicht angemessen, weil der Blickwinkel der Kameras nicht nur die Produktionsanlagen, sondern auch die Arbeitswege der Mitarbeiter kreuze und teilweise Pausenplätze im Außenbereich erfasst würden.

Der Betriebsrat hat beantragt,

festzustellen, dass der Spruch der Einigungsstelle vom 27. November 2010 "Betriebsvereinbarung über die Einführung und Anwendung einer Videoüberwachung" rechtsunwirksam ist.

Die Arbeitgeberin hat beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Die Arbeitgeberin hat die Ansicht vertreten, der Spruch der Einigungsstelle sei formell und materiell wirksam. Frau T. habe am 27. November 2010 ab 13.30 Uhr an der Sitzung der Einigungsstelle teilgenommen. Die Anlagen zu der Betriebsvereinbarung seien vor der Abstimmung vervielfältigt, in den Verhandlungsraum verbracht und dem Vorsitzenden und den Besitzern zur Verfügung gestellt worden. Im Übrigen hätten alle Beteiligten bereits aus den wechselseitigen Schriftsätzen Kenntnis der Anlagen 1 - 3 besessen. Die Anlagen seien spätestens seit Ende Juli/Anfang August 2009 Gegenstand von Verhandlungen zwischen den Beteiligten gewesen. Dabei habe es sich - bis auf unwesentliche Änderungen oder kleinere Ergänzungen - um identische Versionen gehandelt. Zuletzt sei dem Verfahrensbevollmächtigten des Betriebsrates mit Schreiben vom 27. August 2010 der gesamte Satz der Anlagen in Kopie per Post zugeleitet worden.

Eine Videoüberwachung ihres Betriebsgeländes sei notwendig, weil es in der Vergangenheit wiederholt massive Diebstähle und zunehmend Einbrüche gegeben habe, die die Installation einer Videoanlage notwendig gemacht habe, die auch die Außenhaut der Gebäude überwache. Den Belangen der Arbeitnehmer sei ausreichend Rechnung getragen, weil eine Leistungs- und Verhaltenskontrolle ausdrücklich ausgeschlossen worden sei und dem Betriebsrat und dem Datenschutzbeauftragten umfangreiche Kontrollrechte eingeräumt worden seien. Das Thema der Verpixelung der Bilder sei in der Einigungsstelle umfangreich diskutiert worden, die nun gewählten Verpixelungsbereiche seien nur durch die Kameraherstellerfirma aufhebbar. § 32 BDSG sei nicht verletzt, weil dieser nur die heimliche Videoüberwachung betreffe, nicht aber eine offene, wie sie Gegenstand des Einigungsstellenspruches sei.

Das Arbeitsgericht hat den Antrag zurückgewiesen. Der Spruch der Einigungsstelle sei formell wirksam. § 76 Abs. 3 BetrVG erfordere lediglich eine schriftliche Niederlegung und die Unterschrift durch den Vorsitzenden. § 76 Abs. 3 BetrVG verlange weder die feste Verbindung des Einigungsstellenspruches mit gegebenenfalls vorhandenen Anlagen bzw. deren gesonderte Unterzeichnung. Auch eine Durchfolierung der Anlagen sei nicht notwendig. Die Rüge des Betriebsrates, für die Mitglieder der Einigungsstelle sei nicht ersichtlich gewesen, welche Kameras Gegenstand der Regelung sein würden, weil die Anlagen bei der Beschlussfassung nicht vorgelegen hätten, sei nicht erheblich. Zwar habe sich möglicherweise die Anzahl der in den jeweiligen Anlagen enthaltenen Kameras geändert, nicht aber deren Nummerierung und der zuletzt gewählte Bildausschnitt. Die Kameras seien wiederum Gegenstand der Vereinbarung selbst, in der sie einzeln mit ihrer Nummer benannt seien. Damit sei im Zeitpunkt der Abstimmung für die Mitglieder der Einigungsstelle erkennbar gewesen, welche Kameras mit welchem Bildausschnitt konkret in der Anlage enthalten sein würden. Die Auswechslung der Beisitzerin in der Sitzung am 27. November 2010 führe nicht zur Unwirksamkeit des Spruches. Es könne dahinstehen, wann genau die von der Arbeitgeberin benannte Frau T. hingezogen worden sei. Allein die mangelnde Teilnahme an den einzelnen Beratungsterminen der Einigungsstelle schließe eine ausreichende Vorbereitung von Frau T. ebenso wenig aus wie eine eigenständige und unabhängige Entscheidung. Eine Mindestanwesenheitszeit bestehe nicht. Ihr habe lediglich eine angemessene Vorbereitungszeit zur Verfügung stehen müssen. Der Betriebsrat habe ausgeführt, er habe sich vor dem letzten Sitzungsteil über eine Stunde zu internen Beratungen zurückgezogen. Schon dies spreche für eine angemessene Vorbereitungszeit von Frau T. .

Der Spruch der Einigungsstelle sei auch materiell rechtswirksam. Ein Verstoß gegen § 32 BDSG liege nicht vor. Gemäß § 12 Abs. 2 der Betriebsvereinbarung sei Voraussetzung für den Betrieb der Videokameras im Innenbereich, dass ein auf konkrete Personen bezogener Verdacht einer strafbaren Handlung vorliege. Dies entspreche den in § 32 BDSG vorgesehenen Voraussetzungen und der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes. Die Zulässigkeit der Videoüberwachung im Außenbereich folge aus § 28 Abs. 1 BDSG. Der Spruch der Einigungsstelle überschreite auch nicht die Grenzen des Ermessens. Anhaltspunkte dafür, dass die Einigungsstelle von sachfremden Erwägungen ausgegangen sei, seien nicht erkennbar. Die Einigungsstelle habe sich mit den vom Betriebsrat vorgebrachten Punkten, nämlich den Aufnahmewinkeln und insbesondere der in diesem Zusammenhang ausführlich diskutierten Verpixelung von Teilen der Aufnahmen wiederholt auseinandergesetzt. Die Einigungsstelle habe die Belange der Beteiligten, nämlich das Interesse der Arbeitgeberin an der Überwachung und Optimierung der Produktabläufe und das Interesse der Mitarbeiter, nicht Gegenstand von Bild- und Filmaufnahmen zu sein, gegeneinander abgewogen und dafür Sorge getragen, dass die unterschiedlichen Interessen ausreichend berücksichtigt worden seien.

Der Beschluss des Arbeitsgerichts ist dem Betriebsrat am 7. April 2011 zugestellt worden. Hiergegen hat er mit einem am 6. Mai 2011 beim Landesarbeitsgericht Niedersachsen eingegangenen Schriftsatz Beschwerde eingelegt und diese mit einem am 7. Juli 2011 eingegangenen Schriftsatz begründet, nachdem ihm zuvor auf seinen Antrag vom 31. Mai 2011 durch Beschluss vom 1. Juni 2011 die Beschwerdebegründungsfrist bis zum 7. Juli 2011 verlängert worden war.

Der Betriebsrat wiederholt und vertieft erstinstanzlichen Ausführungen und verweist darauf, dass der Grundsatz der Einheitlichkeit einer Urkunde eine feste körperliche Verbindung der Betriebsvereinbarung mit den Anlagen erfordere. Auch im Hinblick darauf, dass im Laufe des Verfahrens einige Kameras umgehängt und neu positioniert worden seien, wäre es erforderlich gewesen, die Anlagen konkret zu bezeichnen bzw. unverwechselbar zum Bestandteil des Einigungsstellenspruches zu machen. Daran fehle es. Entgegen den Ausführungen in dem angefochtenen Beschluss verdränge § 32 BDSG als speziellere Norm im Rahmen von Arbeitsverhältnissen die Regelung des § 28 BDSG. § 32 BDSG lasse eine Videoüberwachung zur Aufdeckung von Straftaten nur zu, wenn ein durch tatsächliche Anhaltspunkte begründeter Verdacht bestehe, dass der Betroffene eine Straftat begangen habe. Selbst dann sei eine Datenerhebung nur zulässig, wenn im konkreten Fall das schutzwürdige Interesse des Beschäftigten hinter dem Interesse der Arbeitgeberin zurücktrete. Diese Verhältnismäßigkeitsprüfung finde im Spruch der Einigungsstelle nicht statt. Im Übrigen habe es das Arbeitsgericht unterlassen, für jede einzelne Kamera und Kameraeinstellung zu prüfen, ob die Kriterien der Verhältnismäßigkeit erfüllt sei.

Der Betriebsrat beantragt,

den Beschluss des Arbeitsgerichtes Braunschweig vom 16. März 2011 - 7 BV 19/10 - abzuändern und festzustellen, dass der Spruch der Einigungsstelle vom 27. November 2010 "Betriebsvereinbarung über die Einführung und Anwendung einer Videoüberwachung" rechtsunwirksam ist.

Die Arbeitgeberin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Arbeitgeberin verteidigt den angefochtenen Beschluss nach Maßgabe ihrer Beschwerdeerwiderung vom 12. September 2011, auf die die Kammer Bezug nimmt (Bl. 329 - 358 d. A.).

Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze nebst den zu den Akten gereichten Anlagen sowie auf das Protokoll des Anhörungstermines vom 1. August 2012 Bezug genommen.

II.

A.

Die statthafte Beschwerde (§ 87 Abs. 1 ArbGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 87 Abs. 2 S. 1, 89 Abs. 1 und Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 66 Abs. 1 S. 1, 2 und 5 ArbGG).

B.

Die Beschwerde ist begründet.

1. Der Antrag des Betriebsrates auf Feststellung der Unwirksamkeit des Spruches der Einigungsstelle vom 27. November 2010 ist als Feststellungsantrag zulässig.

2. Der Spruch der Einigungsstelle vom 27. November 2010 ist wegen Verstoßes gegen das Schriftformerfordernis des §§ 76 Abs. 3 S. 4, 77 Abs. 2 BetrVG unwirksam. Dem Antrag des Betriebsrates war daher unter Änderung des angefochtenen Beschlusses zu entsprechen.

a. Beschlüsse der Einigungsstelle sind gemäß § 76 Abs. 3 S. 4 BetrVG schriftlich niederzulegen, vom Vorsitzenden zu unterschreiben und Arbeitgeber sowie Betriebsrat zuzuleiten. Es handelt sich um eine verbindliche Handlungsanleitung für den Vorsitzenden der Einigungsstelle, deren Nichtbefolgung zur Unwirksamkeit des Einigungsstellenspruches führt. Maßgeblich für die Beurteilung der Formwirksamkeit ist der Zeitpunkt, in dem der Einigungsstellenvorsitzende den Betriebsparteien den Spruch in der Absicht der Zuleitung im Sinne des § 76 Abs. 2 S. 4 BetrVG übermittelt hat. Das Einigungsstellenverfahren ist erst mit dem Eingang des Spruches bei den Betriebsparteien abgeschlossen. Die Einhaltung der Schriftform dient der Rechtsklarheit für die Betriebsparteien und die im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer. Sie sollen aufgrund der Beurkundung und Dokumentation des Einigungsstellenspruches erkennen können, dass das vom Vorsitzenden der Einigungsstelle unterzeichnete Regelwerk auch tatsächlich von der Einigungsstelle beschlossen wurde und die fehlende Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat - mit der normativen Wirkung einer Betriebsvereinbarung - ersetzt. Die gesetzliche Schriftform kann nicht durch die elektronische Form (§ 126 a BGB) oder Textform (§ 126 b BGB ersetzt werden; eine nachträgliche, rückwirkende Heilung der Verletzung der in § 76 Abs. 3 S. 4 BetrVG bestimmten Formvorschriften ist aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit nicht möglich (BAG, 5. Oktober 2010 - 1 ABR 31/09 - NZA 2011, 420).

b. Der Einigungsstellenvorsitzende hat den Spruch der Einigungsstelle, nämlich die Betriebsvereinbarung, die mit "Entwurf des Einigungsstellenvorsitzenden vom 27. November 2010" überschrieben ist, unterzeichnet. Dies allein reicht zur Erfüllung des Formerfordernisses der beschlossen Betriebsvereinbarung nicht aus und führt zu ihrer Unwirksamkeit.

aa. Soweit der Spruch der Einigungsstelle die Einigung der Betriebspartner über den Abschluss einer Betriebsvereinbarung - wie vorliegend - ersetzt, ist er qualitativ eine Betriebsvereinbarung und unterliegt deren Formerfordernissen. Eine Betriebsvereinbarung, die auf Anlagen Bezug nimmt, muss insgesamt dem Schriftformerfordernis der §§ 126 BGB, 77 Abs. 2 BetrVG genügen.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Anforderungen des § 126 BGB auf Normenverträge nicht unbesehen übernommen werden können. Nach § 126 BGB muss die Urkunde das gesamte formbedürftige Rechtsgeschäft enthalten. Bezugnahmen sind unzulässig, wenn sich Angaben, die für den Vertragsinhalt wesentlich sind, ausschließlich aus Umständen außerhalb der Urkunde ergeben. Diese Anforderung dient dem Übereilungsschutz. Er spielt beim Abschluss von Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen keine Rolle. Bei ihnen soll die Schriftform Zweifel über den Inhalt der vereinbarten Normen ausschließen. Die erforderliche Klarheit kann daher auch bei einer Verweisung auf genau bezeichnete andere schriftliche Regelungen bestehen (BAG, 3. Juni 1997 - 3 AZR 25/96 - AP BetrVG 1972 § 77 Nr. 69). Daraus folgt eine erweiterte Zulässigkeit von Anlagen und Verweisungen. Die erforderliche Klarheit kann auch bei einem Verweis auf genau bezeichnete, im Zeitpunkt der Bezugnahme geltende schriftliche Regelungen bestehen. Grundsätzlich finden ebenfalls die an das Formerfordernis von Gesamturkunden gestellten Anforderungen Anwendung. Dem generellen Schriftformerfordernis des § 126 BGB ist bei einer mehrere Blätter umfassenden und am Ende des Textes unterzeichneten Urkunde nicht nur dann genügt, wenn die einzelnen Blätter körperlich fest miteinander verbunden sind, sondern nach Ansicht des Bundesgerichtshofes vom 24. September 1997 auch dann, wenn sich die Einheit der Urkunde aus anderen eindeutigen Merkmalen ergibt, zu denen insbesondere fortlaufenden Paginierung, fortlaufende Nummerierung der einzelnen Textabschnitte sowie über das jeweilige Seitenende fortlaufender Text zu rechnen sind (BGH, 24. September 1997 - XII ZR 234/95 - BGHZ 136, 357). Der Bundesgerichtshof hat damit das Erfordernis einer festen körperlichen Verbindung der verschiedenen Bestandteile der einheitlichen Urkunde aufgegeben.

Dieser Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat sich das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 7. Mai 1998 (- 2 AZR 55/98 - AP KSchG 1969 § 1 Namensliste Nr. 1) angeschlossen und ausgeführt, dass in den Fällen, in denen die Namensunterschrift eine aus mehreren Bestandteilen bestehende Urkunde räumlich abschließe, die Schriftform des § 126 BGB nicht die körperliche Verbindung der einzelnen Blätter der Urkunde erfordere, wenn sich deren Einheit aus fortlaufender Paginierung, fortlaufender Nummerierung der einzelnen Bestimmungen, einheitlicher grafischer Gestaltung, inhaltlichem Zusammenhang des Textes oder vergleichbaren Merkmalen zweifelsfrei ergebe. Wo der Text einer aus mehreren Blättern bestehenden Urkunde ende und folglich durch Unterzeichnung abzuschließen sei, lasse sich auch ohne körperliche Verbindung der einzelnen Blätter in aller Regel anhand derartiger Merkmale zweifelsfrei feststellen. Anderenfalls könnte selbst eine handschriftliche, sich über mehrere nicht miteinander verbundene Blätter erstreckende Erklärung die Schriftform nur wahren, wenn jede einzelne Seite unterschrieben wäre. Dies wäre eine unnötige Erschwerung des Rechtsverkehrs. Bei Dokumenten mit Anlagen reicht es sonach aus, wenn die sachliche Zusammengehörigkeit von unterzeichneter Haupturkunde und Anlage zweifelsfrei feststeht. Dem Schriftformerfordernis ist daher genügt, wenn die Urkunde klar und zweifelsfrei auf - selbst nicht unterzeichnete - Schriftstücke verweist, selbst wenn diese nicht körperlich mit der Urkunde verbunden sind. Dies ist anzunehmen, wenn beispielsweise ein Tarifvertrag in seinem Wortlaut unmittelbar oder mittelbar auf die Anlage Bezug nimmt (BAG, 3. Mai 2006 - 1 ABR 2/05 - BAGE 118, 141; 6. Oktober 2010 - 7 ABR 80/09 - AP BetrVG 1972 § 99 Eingruppierung Nr. 45). Die Zusammengehörigkeit von Urkunde und Anlage kann auch dadurch sichergestellt werden, dass die unterzeichnete Anlage ihrerseits auf die Haupturkunde verweist (vgl. zur Notwendigkeit einer solchen Rückverweisung bei einem Interessenausgleich mit Namensliste: BAG, 12. Mai 2010 - 2 AZR 551/08 - AP KSchG 1969 § 1 Namensliste Nr. 20). Fehlt es sowohl an einer körperlichen Verbindung als auch an einer Unterzeichnung oder Paraphierung der Anlage, ist für die Wahrung der Schriftform zumindest erforderlich, dass zweifelsfrei nur eine Fassung der in Bezug genommenen, eindeutig bezeichneten Anlage existiert (BAG, 21. September 2001 - 7 ABR 54/10 - EZA § 3 BetrVG 2001 Nr. 5).

bb. Bei Anwendung vorgenannter Grundsätze ist festzustellen, dass der angefochtene Einigungsstellenspruch dem Schriftformerfordernis nicht genügt.

Die in § 5 und 8 des Einigungsstellenspruches benannten umfangreichen Anlagen zu 1 - 4, von denen im Zeitpunkt der Zuleitung des Spruches nur die Anlagen zu 1 - 3 existierten, sind mit dem Einigungsstellenspruch nicht körperlich fest verbunden gewesen. Die Anlagen sind weder für sich noch insgesamt fortlaufend paginiert und auch nicht vom Einigungsstellenvorsitzenden unterzeichnet. Die drei Anlagen sind ihrerseits nicht körperlich miteinander verbunden gewesen. Die Anlagen zu 1 - 3 verweisen ihrerseits auch nicht auf die Haupturkunde, die Betriebsvereinbarung. Sie sind auch nur überschrieben mit Anlage 1, Anlage 2 bzw. Anlage 3. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Anlage 2 ihrerseits aus drei jeweils für sich zusammengehefteten Teilen bestand im Umfang von 35, 20 und 11 Blättern (Bl. 41 -106 d.A.). Bei der Anlage 2 befindet sich die Bezeichnung Anlage 2 nur auf dem ersten Blatt des ersten Teiles (Bl. 41 d.A.). Die zwei weiteren, jeweils für sich zusammengehefteten Anlagenkonvolute, die Bestandteil der Anlage zu 2 sein sollen, enthalten ihrerseits keinerlei weitere Bezeichnung, dass sie Bestandteil der Anlage zu 2 oder des Einigungsstellenspruches sind. Sie sind nicht unverwechselbarer Bestandteil des Einigungsstellenspruches.

Eine Rückbeziehung der Anlagen auf den Einigungsstellenspruch findet nicht statt. Aus der Bezeichnung Anlage 1 bzw. 2 oder 3 ist für sich genommen nicht erkennbar, dass diese Anlagen Bestandteil der Betriebsvereinbarung sein sollen. Die einzelnen Blätter der Anlage zu 2 zeigen jeweils für sich Kameraaufnahmen und enthalten die jeweilige Kameranummer, beispielsweise Kamera 27. Eine entsprechende Bezeichnung einer Kamera 27 befindet sich zwar auch in der Anlage 1, die die Standorte der Kameras angibt. Ob es sich dabei jedoch um die Kamera 27 aus der Anlage 2 handelt, ist nicht zweifelsfrei feststellbar, weil auch die Anlage 2 ihrerseits nicht auf die Anlage 1 Bezug nimmt. Im Hinblick darauf, dass von dem Einigungsstellenspruch mindestens zwei Fassungen - je eine für Betriebsrat und Arbeitgeber - bestehen ist, auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes vom 21. September 2001 - 7 ABR 54/10 - (EzA § 3 BetrVG 2001 Nr. 5) die für das Schriftformerfordernis notwendige zweifelsfrei feststehende Zusammengehörigkeit von unterzeichneter Haupturkunde und Anlagen nicht gegeben.

III.

Die Entscheidung ergeht gemäß § 2 Abs. 2 GKG gerichtskostenfrei.

Gründe, die Rechtsbeschwerde gemäß §§ 92, 72 ArbGG zuzulassen, liegen nicht vor.






LAG Niedersachsen:
Beschluss v. 01.08.2012
Az: 2 TaBV 52/11


Link zum Urteil:
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