Bundesgerichtshof:
Beschluss vom 18. Januar 2012
Aktenzeichen: I ZR 170/10

(BGH: Beschluss v. 18.01.2012, Az.: I ZR 170/10)




Zusammenfassung der Gerichtsentscheidung

Die vorliegende Gerichtsentscheidung betrifft einen Rechtsstreit zwischen der Klägerin, der Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, und der Beklagten, einer gesetzlichen Krankenkasse. Die Klägerin wirft der Beklagten vor, irreführende Aussagen auf ihrer Internetseite gemacht zu haben, die gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen. Konkret geht es um die Behauptung der Beklagten, dass Mitglieder, die die Krankenkasse wechseln, möglicherweise draufzahlen müssen, wenn die neue Krankenkasse einen Zusatzbeitrag erhebt. Die Klägerin argumentiert, dass die Beklagte dabei verschweigt, dass den Versicherungsnehmern im Falle eines Zusatzbeitrags ein Sonderkündigungsrecht zusteht.

Die Klägerin forderte die Beklagte zur Abgabe einer Unterlassungserklärung sowie zur Erstattung vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten auf, woraufhin die Beklagte die beanstandeten Aussagen von ihrer Internetseite entfernte. Die Beklagte weigerte sich jedoch, die geforderte Unterlassungserklärung abzugeben und vorgerichtliche Kosten zu erstatten.

Die Entscheidung des Landgerichts, die Beklagte zur Unterlassung der irreführenden Aussagen zu verurteilen und Schadensersatz zu zahlen, wurde in der Berufung bestätigt. Die Beklagte legte daraufhin Revision beim Bundesgerichtshof ein.

Der Bundesgerichtshof hält die Revision für aussetzungsfähig, da eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Auslegung der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken erforderlich ist. Insbesondere geht es um die Frage, ob die irreführenden Aussagen der Beklagten als Geschäftspraktik im Sinne der Richtlinie anzusehen sind und ob die Beklagte als Gewerbetreibende handelt. Eine endgültige Entscheidung des Bundesgerichtshofs wird erst nach der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ergehen.

Die Entscheidung lässt jedoch Zweifel aufkommen, ob die Vorschriften des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb auf den vorliegenden Fall anwendbar sind. Gemäß der Richtlinie 2005/29/EG sind die Begriffe "Geschäftspraktik" und "Gewerbetreibender" autonom auszulegen und setzen eine marktbezogene, wirtschaftliche Tätigkeit eines Unternehmens voraus. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union besagt, dass gesetzliche Krankenkassen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben im Wesentlichen keine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben und daher nicht als Unternehmen im Sinne der Wettbewerbsregeln anzusehen sind. Allerdings könnte eine Auslegung der Richtlinie 2005/29/EG darauf hindeuten, dass die irreführenden Handlungen der Beklagten als Geschäftspraktik im Sinne der Richtlinie anzusehen sind. Insbesondere vor dem Hintergrund des hohen Verbraucherschutzniveaus, das mit der Richtlinie angestrebt wird, ist fraglich, ob eine Ausnahme für gesetzliche Krankenkassen gerechtfertigt ist.

Da die Frage der Auslegung der Richtlinie 2005/29/EG entscheidend für den Ausgang des Verfahrens ist, wird das Verfahren ausgesetzt und eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union eingeholt.




Die Gerichtsentscheidung im Volltext:

BGH: Beschluss v. 18.01.2012, Az: I ZR 170/10


Tenor

I. Das Verfahren wird ausgesetzt.

II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird zur Auslegung der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. EG Nr. L 149 vom 11. Juni 2005, S. 22) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken dahin auszulegen, dass eine - sich als Geschäftspraxis eines Unternehmens gegenüber Verbrauchern darstellende - Handlung eines Gewerbetreibenden auch darin liegen kann, dass eine gesetzliche Krankenkasse gegenüber ihren Mitgliedern (irreführende) Angaben darüber macht, welche Nachteile den Mitgliedern im Falle eines Wechsels zu einer anderen gesetzlichen Krankenkasse entstehen€

Gründe

I. Die Klägerin, die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, nimmt die Beklagte, eine als Körperschaft des öffentlichen Rechts organisierte gesetzliche Krankenkasse, hauptsächlich auf Unterlassung der folgenden im Dezember 2008 auf ihrer Internetseite erschienenen Aussagen in Anspruch:

Wer die BKK M. jetzt verlässt, bindet sich an die Neue für die nächsten 18 Monate. Somit entgehen Ihnen attraktive Angebote, die Ihnen die BKK M. im nächsten Jahr bietet und Sie müssen am Ende möglicherweise drauf zahlen, wenn Ihre neue Kasse mit dem ihr zugeteilten Geld nicht auskommt und deswegen einen Zusatzbeitrag erhebt.

Die Klägerin ist der Auffassung, die beanstandeten Informationen seien irreführend und daher wettbewerbsrechtlich unzulässig. Die Beklagte verschweige, dass im Falle der Erhebung eines Zusatzbeitrags für die Versicherungsnehmer ein gesetzliches Sonderkündigungsrecht bestehe. Die Klägerin mahnte die Beklagte deshalb mit Schreiben vom 17. Dezember 2008 ab und forderte sie zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung sowie zur Erstattung vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten auf. Die Beklagte entfernte die beanstandeten Aussagen daraufhin von ihrer Internetseite. Mit Schreiben vom 6. Januar 2009 teilte sie der Klägerin mit, sie räume ein, auf ihre Internetseite eine fehlerhafte Information eingestellt zu haben, und sage zu, zukünftig nicht mehr mit den beanstandeten Aussagen zu werben. Zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung und zur Übernahme von vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten war die Beklagte nicht bereit.

Die Beklagte ist der Ansicht aufgrund der Ausstrahlungswirkung der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken seien die Vorschriften des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb auf den Streitfall nicht anwendbar. Die Richtlinie erfordere nach ihrem Art. 2 Buchst. d die "Geschäftspraktik" eines "Gewerbetreibenden" im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie. Daran fehle es im vorliegenden Fall, weil sie als Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht mit Gewinnerzielungsabsicht handele.

Das Landgericht hat die Beklagte unter Androhung von Ordnungsmitteln verurteilt, es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr zu Wettbewerbszwecken mit den beanstandeten Aussagen zu werben und an die Klägerin 208,65 € 2 nebst Zinsen zu zahlen. Die dagegen gerichtete Berufung ist erfolglos geblieben (OLG Celle, WRP 2010, 1548 = GRUR-RR 2011, 111). Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt, verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiter.

II. Der Erfolg der Revision hängt, soweit die Verurteilung zur Unterlassung in Rede steht, von der Auslegung des Art. 3 Abs. 1 und des Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken - ABl. EG Nr. L 149 vom 11. Juni 2005, S. 22) ab. Vor einer Entscheidung über das Rechtsmittel der Beklagten ist deshalb das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.

Der Senat möchte in Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht einen Verstoß gegen §§ 3, 5 Abs. 1 UWG aF, § 3 Abs. 1, § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 UWG bejahen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die angegriffene Werbemaßnahme überhaupt nach den Vorschriften des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb beurteilt werden kann.

1. Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 UWG handelt unlauter, wer eine irreführende geschäftliche Handlung vornimmt. Eine "geschäftliche Handlung" ist nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG jedes Verhalten einer Person zugunsten des eigenen oder eines fremden Unternehmens vor, bei oder nach einem Geschäftsab-5 schluss, das mit der Förderung des Absatzes oder des Bezugs von Waren oder Dienstleistungen oder mit dem Abschluss oder der Durchführung eines Vertrags über Waren und Dienstleistungen objektiv zusammenhängt. "Unternehmer" im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 6 UWG ist jede natürliche oder juristische Person, die geschäftliche Handlungen im Rahmen einer gewerblichen, handwerklichen oder beruflichen Tätigkeit vornimmt. Die genannten Vorschriften dienen der Umsetzung der Art. 5 und 6 Abs. 1 Buchst. g, Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie 2005/29/EG. Sie sind daher im Lichte des Wortlauts und der Ziele dieser Richtlinie auszulegen (EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2004 - C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835 Rn. 113 f. = EuZW 2004, 691 - Pfeiffer u.A./Deutsches Rotes Kreuz, Kreisverband Waldshut e.V.; BGH, Urteil vom 26. November 2008 - VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 Rn. 19 ff.).

a) Als nicht geklärt kann angesehen werden, ob Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie 2005/29/EG eine Auslegung von § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 6 UWG erlaubt, nach der die beanstandete Handlung als Geschäftspraktik im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern anzusehen ist und die Beklagte, die als Körperschaft des öffentlichen Rechts die Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung erfüllt, bei Vornahme der beanstandeten Maßnahme als Gewerbetreibende gehandelt hat. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat diese Frage bislang - soweit ersichtlich - noch nicht entschieden.

b) Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2005/29/EG findet die Richtlinie Anwendung auf unlautere Geschäftspraktiken zwischen Unternehmen und Verbrauchern. Als "Geschäftspraktik zwischen Unternehmen und Verbrauchern" wird in Art. 2 Buchst. d der Richtlinie jede Handlung, Unterlassung, Verhaltensweise oder Erklärung, kommerzielle Mitteilung einschließlich Werbung und Marketing eines Gewerbetreibenden bezeichnet, die unmittelbar mit der Absatz-8 förderung, dem Verkauf oder der Lieferung eines Produkts an Verbraucher zusammenhängt. Gemäß Art. 2 Buchst. b der Richtlinie ist "Gewerbetreibender" jede natürliche oder juristische Person, die im Geschäftsverkehr im Sinne dieser Richtlinie im Rahmen ihrer gewerblichen, handwerklichen oder beruflichen Tätigkeit handelt.

Die von der Richtlinie verwendeten Rechtsbegriffe "Geschäftspraktik von Unternehmen gegenüber Verbrauchern" und "Gewerbetreibender" sind als Begriffe des Gemeinschaftsrechts autonom auszulegen (EuGH, Urteil vom 11. März 2003 - C-40/01, Slg. 2003, I-2439 Rn. 26 = GRUR 2003, 425 - Ansul BV/Ajax Brandbeveiliging BV; Köhler in Köhler/Bornkamm, UWG, 30. Aufl., Einl. UWG Rn. 3.11 ff.) und setzen eine marktbezogene, wirtschaftliche Tätigkeit eines Unternehmens voraus.

Ein Unternehmen ist jede Einheit, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung (EuGH, Urteil vom 11. Dezember 2007 - C-280/06, Slg. 2007, I-10893 Rn. 38 = WuW/E EU-R 1353 - ETI u.a.; Urteil vom 3. März 2011 - C-437/09, WuW/E EU-R 1929 Rn. 41 - AG2R Prevoyance). Eine wirtschaftliche Tätigkeit ist jede Tätigkeit, die im Anbieten von Gütern oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt besteht (EuGH, Urteil vom 11. Juli 2006 - C-205/03 P, Slg. 2006, I-6295 Rn. 25 = WuW/E EU-R 1213 - FENIN/Kommission; Urteil vom 3. März 2011 - C-437/09, WuW/E EU-R 1929 Rn. 42 - AG2R Prevoyance).

Im Zusammenhang mit der Anwendung der Art. 81, 82 und 86 EG (jetzt: Art. 101, 102 und 106 AEUV) auf soziale Sicherungssysteme hat der Gerichtshof entschieden, dass die deutschen gesetzlichen Krankenkassen bei der Festsetzung der Festbeträge für Arzneimittel weder als Unternehmen noch deren Zusammenschlüsse als Unternehmensvereinigungen im Sinne der genannten 10 Vorschriften tätig werden (EuGH, Urteil vom 16. März 2004 - C-264/01 u.a., Slg. 2004, I-2493 Rn. 47 ff. = WuW/E EU-R 801 - AOK Bundesverband u.a./Ichthyol-Gesellschaft Cordes Hermani & Co u.a.; siehe auch für Sozialversicherungssysteme anderer Mitgliedstaaten EuGH, Urteil vom 17. Februar 1993 - C-159/91, C-160/91, Slg. 1993, I-637 Rn. 15, 18 = EuZW 1993, 355 - Poucet und Pistre). Danach verfolgen Einrichtungen, die mit der Verwaltung gesetzlicher Kranken- und Rentenversicherungssysteme betraut sind und dabei der staatlichen Aufsicht unterliegen, einen rein sozialen Zweck und üben insoweit keine wirtschaftliche Tätigkeit aus, wenn sie nur Gesetze anwenden und keine Möglichkeit haben, auf die Höhe der Beiträge, die Verwendung der Mittel und die Bestimmung des Leistungsumfangs Einfluss zu nehmen. Auch die deutschen gesetzlichen Krankenkassen erbringen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Wesentlichen gleiche Pflichtleistungen, unabhängig von der Höhe der Beiträge und ohne eine Gewinnerzielungsabsicht. Ihre Tätigkeit beruhe auf dem Grundsatz der nationalen Solidarität. Aus diesem Umstand sowie aus dem zwischen den Krankenkassen bestehenden Kosten- und Risikoausgleich folge, dass die gesetzlichen Krankenkassen weder miteinander noch mit den privaten Einrichtungen hinsichtlich der Erbringung des gesetzlich vorgeschriebenen Leistungskatalogs konkurrierten. Dieser Bewertung stehe - so der Gerichtshof - nicht entgegen, dass die Krankenkassen in gewissem Umfang im Wettbewerb um Mitglieder stünden und in diesem Zusammenhang auch über einen gewissen Spielraum bei der Festsetzung der Beiträge verfügten (EuGH, Slg. 2004, I-2493 Rn. 51 ff. - AOK Bundesverband u.a./Ichthyol-Gesellschaft Cordes Hermani & Co u.a.).

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat es allerdings auch für möglich erachtet, dass die Krankenkassen und die sie vertretenden Einheiten (Kassenverbände) außerhalb ihrer Aufgabe rein sozialer Art im Rahmen der Verwaltung des deutschen Systems der sozialen Sicherheit Geschäftstätigkeiten aus-13 üben, die keinen sozialen, sondern einen wirtschaftlichen Zweck haben. In diesem Fall wären sie im Rahmen dieser Tätigkeiten als Unternehmen anzusehen (EuGH, Slg. 2004, I-2493 Rn. 58 - AOK Bundesverband u.a./Ichthyol-Gesellschaft Cordes Hermani & Co u.a.; Urteil vom 5. März 2009 - C-350/07, Slg. 2009, I-1538 Rn. 42 = WuW/E DE-R 1543 - Kattner Stahlbau GmbH/Maschinenbau- und Metall-Berufsgenossenschaft).

2. Der Senat hat Zweifel, ob die für die Auslegung von Art. 101 und Art. 102 AEUV entwickelten Grundsätze auch für die Auslegung von Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie 2005/29/EG maßgeblich sind. Dagegen könnte die Zielsetzung der Richtlinie sprechen. Deren Zweck ist es, Verbraucher vor Beeinträchtigungen ihrer wirtschaftlichen Interessen durch unlautere Geschäftspraktiken im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern zu schützen (vgl. Erwägungsgrund 8 sowie Art. 1 der Richtlinie) und damit der Verwirklichung eines hohen Verbraucherschutzniveaus zu dienen (Erwägungsgründe 1 und 11). Insofern könnte bei der hier in Rede stehenden Auslegung der Richtlinie von maßgeblicher Bedeutung sein, ob die beanstandete Maßnahme aus Sicht der Verbraucher, die die von der Beklagten angebotene Dienstleistung nachfragen, einen Marktbezug hat. Dafür könnte Erwägungsgrund 7 der Richtlinie sprechen, nach dem sich die Richtlinie auf Geschäftspraktiken bezieht, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Beeinflussung der geschäftlichen Entscheidungen des Verbrauchers in Bezug auf Produkte stehen.

Jedenfalls dann, wenn irreführende Handlungen im Verhältnis zu Verbrauchern in einem Bereich ergriffen werden, der von einem Teilwettbewerb zwischen den anbietenden Einrichtungen geprägt ist, die Maßnahme gerade zum Zwecke der Ausnutzung der vom Gesetzgeber eröffneten wettbewerblichen Handlungsspielräume erfolgt und eine Beeinträchtigung der wirtschaftli-14 chen Interessen der Verbraucher zu befürchten ist, liegt es nahe, diese Handlung als irreführende Geschäftspraktik im Sinne von Art. 6, Art. 3 Abs. 1 und Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie 2005/29/EG einzustufen. Für die Beantwortung der Vorlagefrage könnte auch von Bedeutung sein, dass der deutsche Gesetzgeber durch verschiedene gesetzgeberische Maßnahmen (vgl. Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung in der gesetzlichen Krankenkasse [Gesundheitsstrukturgesetz] vom 21. Dezember 1992, BGBl. I S. 2266; Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 26. März 2007 [GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz], BGBl. I S. 378) zu Gunsten der gesetzlichen Krankenkassen gezielt Handlungsspielräume eröffnet hat, um damit einen - wenn auch eingeschränkten - Preis- und Qualitätswettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen zu ermöglichen (vgl. dazu Monopolkommission, 18. Hauptgutachten 2008/2009, BT-Drucks. 17/2600, S. 387 ff.). Gemäß den §§ 173, 175 SGB V haben Versicherungspflichtige und Versicherungsberechtigte das Recht, unter verschiedenen Anbietern den von ihnen bevorzugten Träger einer Krankenkasse zu wählen. Zwar können die Träger der gesetzlichen Krankenkassen die Beitragssätze nicht frei bestimmen; diese werden seit dem Inkrafttreten des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes nach § 241 SGB V für alle Kassen einheitlich festgesetzt. Sie haben jedoch die Möglichkeit, Zusatzbeiträge zu erheben (§ 242 SGB V), Beitragsrückerstattungen zu gewähren (§ 13 Abs. 2 SGB V) und besondere Wahltarife anzubieten (§ 53 SGB V). Gemeinsames gesetzgeberisches Ziel dieser Maßnahmen ist es, die Wirtschaftlichkeit des Systems der gesetzlichen Krankenkassen zu verbessern (vgl. die Regierungsbegründung zum Entwurf des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes, BT-Drucks. 16/3100, S. 85).

Machen die Krankenkassen von diesen Handlungsmöglichkeiten Gebrauch und treten sie mit anderen Krankenkassen in einen Wettbewerb um Mitglieder, handeln sie nach dem Willen des Gesetzgebers insoweit jedenfalls un-16 ternehmerisch. Denn Ziel dieser Wettbewerbshandlungen ist es, die Beiträge der Mitglieder zu vereinnahmen, um auf diese Weise ihre eigene Einnahmesituation zu verbessern. Aus der Sicht eines Verbrauchers handelt es sich bei der Wahl der von ihm bevorzugten Krankenkasse aus dem Kreis mehrerer, konkurrierender Anbieter ebenfalls um eine geschäftliche Entscheidung, deren irreführende Beeinflussung durch die gesetzliche Krankenkasse eine Beeinträchtigung seiner wirtschaftlichen Interessen zur Folge haben kann. Insofern stellt es für ihn keinen Unterschied dar, ob sich der Marktbezug der beanstandeten Handlung aus einem Wettbewerb zwischen öffentlichrechtlich organisierten Trägern sozialer Sicherungssysteme oder zwischen privaten Anbietern ergibt.

Vor dem Hintergrund des mit der Richtlinie 2005/29/EG erstrebten hohen Verbraucherschutzniveaus erscheint es zweifelhaft, ob eine Auslegung von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie, wonach unlautere Handlungen der gesetzlichen Krankenkassen im Wettbewerb um ihre Mitglieder vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2005/29/EG ausgenommen sind, diesem Schutzzweck hinreichend Rechnung trägt.

Bornkamm Pokrant Schaffert Koch Löffler Vorinstanzen:

LG Lüneburg, Entscheidung vom 29.10.2009 - 7 O 78/09 -

OLG Celle, Entscheidung vom 09.09.2010 - 13 U 173/09 - 17






BGH:
Beschluss v. 18.01.2012
Az: I ZR 170/10


Link zum Urteil:
https://www.admody.com/gerichtsentscheidung/49904e4d594a/BGH_Beschluss_vom_18-Januar-2012_Az_I-ZR-170-10




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